: Über dem lärmenden Abgrund
Der Architekt Sant'Elia in Frankfurt/Main ■ Von Rolf Lautenschläger& Bettina Müller
Der italienische Architekt Antonio Sant'Elia (1888 bis 1916) schrieb in seinem 1914 veröffentlichten Manifest Die futuristische Architektur: „Ich bekämpfe und verabscheue [...] die gesamte klassisch feierliche, hieratische, theatralische, dekorative, monumentale, anmutige, gefällige Architektur.“ Der Ruhm von Sant'Elia, der nach seinem frühen Tod im Ersten Weltkrieg von den Futuristen zu einem ihrer Propheten verklärt wurde, beruht neben seinen flammenden Worten auf über dreihundert Skizzen, in denen er in nur wenigen Jahren ein Programm für die „Città Nuova“, die Stadt der Zukunft, entwickelte. Seiner verbalen Ablehnung des Monumentalen allerdings scheinen die Zeichnungen vehement zu widersprechen: Ab 1909 dekliniert er auf dem Papier am Thema des „Monumentalbaus“ ohne nähere Zweckbestimmung jene neue Strukturierung und Gliederung der Baumassen durch, die 1913/14 in Entwürfe für riesige Industriebauten, Elektrizitätswerke und Hochhäuser mündet.
Da schießen, von dürren Strichen markiert, Batterien steiler Türme in die Höhe, werden zylindrische Formen wie Raketenköpfe gestaffelt, Schornsteine wie Orgelpfeifen gereiht und Pyramiden in parallele Scheiben zerlegt. Ableitende und stützende Kräfte, Strebepfeiler und Bögen wachsen sich von schmalen Diensten zu eigenständigen Baukörpern aus. Immer wieder sind schräg gestellte und senkrechte Wände ineinander verzahnt. Die Parallelität der Konturen, die abgestuften und getreppten Formen steigern sich zu einem Stakkato-Rhythmus. Der Blickpunkt der Zeichnungen liegt meistens tief; einige Blöcke schieben sich so mächtig auf das Blatt, daß ihre Basis nicht zu sehen ist. Das Außen der Baukörper verrät nichts von der inneren Raumaufteilung. Hermetisch verschlossen, zeigen sie sich ohne Geschoßgliederung, ohne Fenster. Die Dynamik der „Monumentalbauten“ ist nur von einer Bewegungsrichtung bestimmt: in den Himmel stürmend. Farbliche Kontraste steigern die Theatralik dieser dramatischen Papierarchitektur.
Der offensichtliche Widerspruch zwischen der verbalen und der gezeichneten Programmatik von Sant'Elia, der sich neben dem Kriterium der Monumentalität auch an der eingeklagten Funktionalität und Flexibilität der Architektur festmachen ließe, verleitet zu einer schnellen Einschätzung seiner Werke als die eines ungeheuren Visionärs. Daß er in seinen kurzen Berufsjahren 1912 bis 1914 außer beim Bau einer kleinen Landvilla nicht an der Realisierung eigener Ideen arbeiten konnte, sondern sich an Wettbewerbsentwürfen beteiligte, versah ihn mit dem Stigma mangelnder Praxis. So wurde seinen Zeichnungen nicht selten nur die Anerkennung als äußerst reduzierte Objekte bildender Kunst zuteil.
Doch die Ausstellung und der Werkkatalog Antonia Sant'Elia — Gezeichnete Architektur 1906 bis 1916 des Frankfurter Architekturmuseums DAM versuchen, nicht bei der Erkenntnis des Widerspruchs zwischen Wort und Bild stehenzubleiben. Für Vittorio Magnago Lampugnani, Direktor des DAM, bildet die von Sant'Elia verkörperte Ambivalenz — zwischen rationaler Sachlichkeit und irrationalem Pathos, zwischen dem Ruf nach beweglichen Formen und monumentaler Erstarrung, zwischen Ablehnung der Geschichte und einem klassisch geprägten Harmoniebedürfnis — einen paradigmatischen Konflikt ab, der die Moderne in der Architektur von anfang an prägte. Die umfassende Retrospektive will den Weg, der den italienischen Rebellen der Architektur zu den dichten und komplexen Strukturen der „Città Nuova“ führte, zurückverfolgen und sowohl die Impulse darstellen, die der junge Architekt aus seinen praktischen Erfahrungen erhielt, als auch seine Rezeption und Verarbeitung der Ansätze der Wiener Secession und der Schule Otto Wagners klären.
Der diplomierte Baumeister Sant'Elia beschäftigte sich mit Wettbewerben in Mailand: zum Hauptbahnhof, dem Neubau eines Sparkassengebäudes, für Friedhöfe und Kirchen. Diese Objekte von Planung und Phantasie konfrontierten ihn mit den Problemen der expandierenden Industriestadt Mailand, Dichte und Verkehr. Mit der Stadt wandelte sich das Bild der lombardischen Landschaft, in der jetzt Kanäle und Staudämme, Straßen und Elektrizitätswerke Zeichen der Industrialisierung setzten.
Wahrscheinlich eine Auftragsarbeit war der Entwurf einer Fassade von 1911, mit schwarzer und goldener Tusche gezeichnet. Die Fenster des fünfstöckigen Hauses sind von Jugendstilornamenten gerahmt: das später von Sant'Elia so heftig verdammte Dekor. Medusenhaft erstarrte Masken, bißwütige Schlangen und Aktfiguren, denen das Gerippe durch die Haut scheint, kündigen ein Umkippen des dekorativen Ornaments in expressive Zeichen an. Eine ähnlich symbolische Distanzierung von den noch gebrauchten Formen zeigt sich auch in den Arbeiten Sant'Elias zur Gestaltung von Grabmälern und Friedhöfen. Zwischen einem Eklektizismus und düsteren Ornamenten wird die Suche nach einer großzügigen Gliederung in geometrische Blöcke sichtbar. Am Übungsgegenstand eines Grabmals gerät sie jedoch zu einem pompösen Totenkult — Chiffre späterer faschistischer Rezeption.
Noch 1916, während seines Dienstes in der italienischen Armee, der er im Jahr zuvor freiwillig beigetreten war, arbeitete Sant'Elia an der Anlage eines Soldatenfriedhofs (auf dem er nach seinem Tod selbst beigesetzt wurde). Von seinen vielen Skizzen wurde nur eine postum realisiert: Marinetti, der Sant'Elia schon 1914 aufgrund seines Manifestes zu einem getreuen Gefolgsmann erkoren hatte, wählte den Entwurf eines Turmes aus, um ihn als Gefallenen- Denkmal von Attilio und Giuseppe Terragni 1933 bauen zu lassen.
Über Ausstellungen nahm der junge Architekturstudent die Positionen der Wiener Secession und der Schule Otto Wagners wahr. Hier fand er Ansätze einer neuen Gliederung der Massen. Seine Entwürfe sind hoch abstrakt. Der zeichnerischen Linie wird uneingeschränkt von der Konstruktion eines Gebäudes eine eigenständige Entwicklung zugestanden. Nicht nur Sant'Elia — vielen jungen europäischen Architekten diente die Zeichnung als Instrument einer utopischen Kritik an der Praxis. Der italienische Künstler aber reduzierte seine Entwürfe auf Konturen in seltener Radikalität. An die Stelle von Ornament und eleganter Linie rückte grafische Askese.
Nur vermeintlich sind seine auf die Außenhaut der Monumentalbauten beschränkten Entwürfe nicht aus deren Innerem konzipiert. Zwar fehlen Angaben zu den möglichen konkreten Funktionen ebenso wie Grundrisse, Schnitte oder Maßangaben. Luciano Caramel, der mit Alberto Longatti das Werkverzeichnis zu Sant'Elia erarbeitet hat, kann aber eine elementare Funktion der Gebäude erkennen: Ihre gegliederten Massen dienten der Bündelung und Zähmung des Energie-Ausbruchs Stadt. Die Schrägen stemmen sich gegen die nach außen drängenden Kräfte, die Tonnen und Türme kanalisieren ihre Ströme. In seinen himmelstürmenden Entwürfen fehlte es dem Erfinder neuer Formen, der die Trennung zwischen Ingenieur und Architekt wieder aufheben wollte, nicht an archaisierenden Anklängen und wehrhaften Attributen. Zu dem Vokabular archetypischer Formen von Turm, Haus, Burg und Bogen kommen 1913 an Zinnen und Schießscharten erinnernde Formen. Vereinfachte Pferdeskulpturen auf vorgeschobenen Blöcken bewachen Tore und Türme — eine mittelalterliche Maskerade, die allerdings Episode bleibt.
Der italienische Architekt, der sich seit Juli 1914 als Mitglied der Sozialistischen Partei politisch engagierte, versuchte sein abstraktes Formenvokabular mit realen Bauaufgaben, mit denen ihn die wachsende Großstadt bedrängte, zu füllen. Der „Monumentalbau“ wird zum „Industriegebäude“: Schlägt aus einer so benannten Zeichnung von 1913 noch die rote Feuerlohe der revolutionären Veränderung, findet Sant'Elia in den Elektrizitätswerken eine konkrete und ideale Bauaufgabe. Sie erlaubt ihm nicht nur, ein expressives Zeichen zu setzen: zugleich kann er Gebäudeformen technologisch präzisieren. Die Naturgewalten Berg und Wasserfall scheinen dabei die elementaren Großformen vorgebildet zu haben. Ähnlich den Staudämmen, die sich gegen die Macht des Wassers stemmen, drängen seine Elektrizitätswerke schräg in die Höhe, während parallele Trassen über Niveauunterschiede des Geländes greifen. Die dichten Stränge der Kabel, die aus den E-Werken kommen, stellen das erste Bindeglied zwischen den monolithischen Baumassen und ihrer Umwelt dar.
Theater, Hangars und Brücken werden zu weiteren Bausteinen auf dem Weg zum komplexen System „Città Nuova“. Ein entscheidendes Element, an dem die Skizzen dem realisierbaren Plan näherrückten, bildeten die terrassierten Hochhäuser mit Außenaufzügen. Erstmals wird die Bewegung konkret in der Architektur sichtbar. Zwischen den Häusern nimmt die Maschine Stadt dynamische Formen an: Verkehrsebenen überlagern sich, Gitterstege, Galerien für Fußgänger, Brücken, Straßen und Schienenstränge schieben sich übereinander. Um diese Vernetzung der einzelnen Elemente in der Vertikalen, die fast das ausschließliche Medium von Sant'Elia ist, zeichnen zu können, muß er deren planimetrische Struktur beherrscht haben, auch wenn er sie weder auf Grundrissen noch in Stadtplänen festhielt.
Waren seine Zeichnungen utopischer Vorgriff, so gilt dies noch mehr für seine sprachliche Skizze der futuristischen Stadt: „Wir müssen die futuristische Stadt erfinden und erbauen — sie muß einer großen, lärmenden Werft gleichen und in allen Teilen flink, beweglich, dynamisch sein: Das futuristische Haus muß wie eine riesige Maschine sein.“ Daß ihm dabei das städtische Leben, über dem sich „das Haus aus Beton, aus Glas und Eisen“ erheben sollte, zu „dem Geheul eines lärmenden Abgrunds“ geriet, verrät zugleich seine ambivalente Haltung zur Stadt der Zukunft: Hinter den strengen Formen der Kanalisierung und Ordnung ihrer Energieströme lauert die Furcht.
Antonio Sant'Elia — Gezeichnete Architektur. Deutsches Architektur-Museum, Frankfurt am Main, bis 17.Mai 1992.
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