Onegin im Röntgenbild

■ Tschaikowskys Oper als szenische Collage im Hebbel-Theater

Eine Oper ohne die instrumentalen Farben des Orchesters, zurückgeworfen auf die Strukturen der Musik, nahezu ohne die atmospährischen Wirkungen von Bühnenausstattung und Kostümen: das ist die Stunde der Wahrheit. Zu bestehen hatte sie Peter Tschaikowskys Eugen Onegin nach Alexander Puschkin, lyrische Szenen, komponiert im späten 19. Jahrhundert auf den Versroman aus dem frühen 19. Jahrhundert. Zwei Zeitepochen, zwei Künstler, zwei Lebenshaltungen im direkten Vergleich: eine Onegin-Collage. Einzelnen Gesangsnummern aus der Oper standen gesprochene und gespielte Textpassagen aus dem Roman gegenüber. Diesen vermittelten, auch verschlüsselten Blick in die Gedankenwelten zweier Künstler hatte Regisseur Andreas Baumann zu einem theatralischen Ereignis ausgeformt.

Der Abend hat jene voyeuristische Spannung, die man beim Lesen von Dokumenten empfinden kann: wenn man ahnt, wie fremde Gedanken liefen, wie Tschaikowsky seine literarischen Anregungen und Vorgaben wann und unter welchen Umständen und inneren Zuständen verarbeitete. Tschaikowsky taucht ganz hinein in die idyllische Stimmung auf dem Landgut der Larins, in des Dichters Lenski poetische Seele, in Olgas Fröhlichkeiten, und vor allem in Tatjanas starkes, dabei naives und so leicht irritierbares Bedürfnis, zu lieben und sich zu verschenken.

Onegin ist das untaugliche, weil herzenskalte und gefühlstaube Objekt ihrer Träume. Ungebrochen spricht die Musik von alldem. Die Arien und einige Ensembles werden allein vom Klavier begleitet und entbehren des Tschaikowsky-typischen Parfüms aus Melancholie, Luxus und Sehnsucht, das offensichtlich seinen Duft aus der Farbe der Instrumente bezieht. Schön, daß Lenski seine berühmte seelenvolle Arie auf russisch singt und so ihre rechte Wirkung hervorholt. Eine wirklich ironische Distanz aber, die nichts weiter ist als der realistische Blick, kommt aus Puschkins Versen. Die Landidylle offenbart Langeweile, die fröhliche Olga erweist sich als eingesperrtes Püppchen, der schwärmerische Dichter Lenski gar als in Poesie dilettierender Nichtstuer und Nichtskönner.

Trotzdem, Onegin liebt ihn, und nicht umsonst hat Baumann seine Sprecherrolle einer knabenhaften Frau anvertraut. Die beiden jungen Schauspieler stehen zunächst schwarzbefrackt distanziert an der Seite, um sich mählich immer tiefer ins Geschehen zu mischen. Nach Lenskis Duelltod bieten sie eine Totengräberszene hamletschen Formats.

Knappstes Mobiliar auf der Bühne des Hebbel-Theaters, eigentlich nur vier hochlehnige Gitterstühle und eine Reihe Scheinwerfer, machen die vielfach nutzbaren Spielrequisiten aus. Auf einer beziehungsvoll spiegelglatten Bodenfläche spielt sich alles ab. Baumann geht nicht zimperlich mit seinen Sängern und ihren Figuren um. Tatjana windet sich, wirklich außer sich, am Boden, Olga zwitschert unter Tränen und haßt den sie anhimmelnden Lenski. Bis auf Tatjana, die stimmlich für diese Partie wirklich noch ein bißchen zu mager ist, klingt alles sehr erfreulich, jung und schlank, wie übrigens Tschaikowsky es wollte, der sein Stück Studenten zur Uraufführung gab.

Am Ende schwenkt der Regisseur ganz auf Puschkins ironische Linie ein, übertreibt ihn endlich zum Slapstick: Fürst Gremin, der die Lieb' auf Erden kennt, wird im Rollstuhl hereingefahren von einer hochhackig daherstöckelnden Tatjana im lächerlichen Kolombine-Kostümchen. Onegin erschießt sich mit der Wasserpistole.

Das war ein Zahn zuviel, zumal Sentimentales auch nicht ausgespart bleibt. Unverständlicherweise betreibt ein Tanzpaar immer mal wieder Lockerungs- und Fallübungen auf der Bühne und zeigt dabei jede Menge Seele. Aber im ganzen: eine lohnende Kooperation zwischen Tschaikowsky und Puschkin, zwischen der sächsischen Kammeroper Meißen e.V. und der Berliner Kammeroper. Irene Tüngler