: Sturm an Rumäniens Ostfront
In Moldova konvergieren politische und ethnische Spannungen zu einer Bürgerkriegskonstellation ■ VON ERHARD STÖLTING
Moldova bricht auseinander und steht vor dem Bürgerkrieg. Frontlinie ist der Fluß Dnestr. Westlich von ihm liegt der größere Teil des Landes mitsamt der Hauptstadt Chisinau (Kischinjow); hier sind die meisten Einwohner „Moldovanen“, d.h. rumänischsprachig. Östlich des Dnestr leben in einem schmalen, sonst durch die Ukraine eingeschlossenen Landstreifen überwiegend Slawen — Ukrainer und Russen und eine moldovanische, überwiegend bäuerliche Minderheit. Dieser Landstreifen, in der rumänischen Geographie „Transnistrien“, ist das Territorium der „Dnestr-Republik“ mit der Hauptstadt Tiraspol, die schon vor dem August-Putsch durch die Anhänger des sowjetischen Imperiums ausgerufen worden war.
Nationalismus ohne Machtmittel
Die Regierung Moldovas erkannte die Sezession Transnistriens nicht an, hatte aber von Anfang an nicht die Machtmittel, sie rückgängig zu machen. Sie hatte sich bisher bemüht, den Konflikt zu dämpfen, wurde aber durch radikalere nationalistische Gruppierungen bedrängt, die eine homogenisierende Lösung der ethnischen Probleme und eine rasche Vereinigung mit Rumänien anstreben. Gerade die Furcht vor diesen radikal- nationalistischen Zielvorstellungen hatte den sowjetischen Reformgegnern in den letzten Jahren eine Massenbasis verschafft.
So klein das transnistrische Territorium erscheint — hier konzentrieren sich große Teile der Industrieproduktion der ehemaligen Sowjetrepublik Moldawien. Überwiegend hier sind die GUS-Streitkräfte stationiert, deren Offiziere der Sowjetunion nachtrauern. Aber auch westlich des Dnestr haben die Separatisten Sympathisanten. Die Industriearbeiterschaft von Bendery und Rynbiza ist überwiegend slawisch und hat keine Sympathien für rumänische Nationalbegeisterung.
Sogar die Minderheit der Gagausen im Süden Moldovas hatte 1990 ihre eigene Republik ausgerufen. Daß sie sich konservativen, sowjetisch orientierten Führern anschloß, ist für sich bemerkenswert. Denn die Gagausen, als überwiegend bäuerliche, türkischsprachige und christlich-orthodoxe Bevölkerung, die Anfang des 19. Jahrhunderts aus dem damals noch osmanischen Bulgarien zuwanderte, stehen vom Lebenszuschnitt und der Mentalität her den bäuerlichen Rumänen viel näher als der Industriearbeiterschaft im Osten. Auch sie fürchten sich offenbar davor, die Existenzbedingungen einer kleinen Nation in einem russisch dominierten multinationalen Gebilde gegen jene einer allenfalls geduldeten nationalen Minderheit einzutauschen.
Die Panzer kamen nicht
Auf den Putsch vom August 1991 hatte die Regierung Moldovas sofort und entschieden reagiert: Schon am ersten Tage wurden alle zentralen sowjetischen Zeitungen verboten und das sowjetische Fernsehen abgeschaltet. Die Regierung rief die Bevölkerung zum Widerstand auf. Daraufhin kamen aus ganz Moldova mit Knüppeln bewaffnete junge Männer in klapprigen Bussen und kampierten in den Parks der Hauptstadt. Die Busse wurden so gestellt, daß sie sofort zu Barrikaden zusammengeschoben werden konnten.
Hätten sich die sowjetischen Panzer von Tiraspol aus auf den Weg gemacht, wäre es zu einem entsetzlichen Blutbad gekommen. Aber die Panzer kamen nicht.
Dem Scheitern des Putsches folgte das Verbot der Kommunistischen Partei und die Konfiskation ihres Vermögens. Am 27. August erklärte sich das Land selbständig.
Der Austritt Moldovas aus der damals noch bestehenden Sowjetunion bedeutete aber keine Kursänderung der moldauischen Regierung. Er war Schlußpunkt einer sich beschleunigenden Radikalisierung in den beiden vorhergehenden Jahren. Wie in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken waren auch in Moldova die radikalen Nationalisten gegenüber den gemäßigten durch ihre sowjetischen Gegner immer wieder ins Recht gesetzt worden. Nicht zuletzt die Sezessionen Transnistriens und der Gagausen verstärkten die rumänische Nationalbewegung Moldovas. So wird auch die Haltung zur GUS verständlich: Wie die ukrainische Regierung war auch die moldauische der Auffassung, daß die GUS nicht die Vorstufe eines neuen Staates, sondern eine Übergangsstruktur zur Abwicklung der sowjetischen Zusammenhänge sein sollte.
Die Führer der Dnestr-Republik und die der Gagausen-Republik hingegen hatten den Putsch vom August 1991 sofort begrüßt. Die Kommunistische Partei stellte ihre Arbeit dort erst auf das Geheiß Gorbatschows formell ein; de facto bestand sie weiter. Die alten Führer blieben an der Macht. Die Regierung Moldovas konnte nicht einmal verhindern, daß neu aufgestellte Einheiten der Dnestr-Republik, deren Bewaffnung aus den GUS-Arsenalen kam, Polizeistation um Polizeistation eroberten. Die ehemalige sowjetische Armee stellte auch Instrukteure zur Verfügung. Auf diesem Hintergrund wird die Absicht der moldauischen Regierung, eigene Truppen aufzustellen, zwingend.
Wie in Rußland jedoch sollte man den politischen Gehalt dieser Bewegung nicht vorschnell als kommunistisch fassen, auch wenn in der Dnestr-Republik die Lenin-Standbilder noch stehen und Hammer und Sichel noch die öffentlichen Gebäude zieren. Es geht nicht um verblaßte Utopien — es geht um ein Reich, das bis vor kurzem Realität gewesen war. Die politische Basis der Dnestr-Republik ist der russische, panslawische Nationalismus, die Verteidigung heiliger slawischer Erde.
Nur so ist das militärische Engagement russischer Kosaken zu verstehen. Sie sehen sich als Vorkämpfer eines russischen, nicht eines marxistischen Imperiums. Entsprechend sind ukrainische Kosaken auch nicht beteiligt; ihre Folklore ist fest an die Feier der ukrainischen Nationalität gebunden; Hauptgegner für sie ist gerade Rußland.
Die imperiale Orientierung der slawischen Bevölkerungsmehrheit Transnistriens bestand seit den ersten Regungen des rumänischen Nationalismus. Die Furcht vor dem Zwang, Rumänisch lernen zu müssen, oder davor, zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, trieb den „Interbewegungen“ Anhänger zu. Auch für die ukrainischen Arbeiter, die überwiegend zur russischen Sprache übergegangen waren, stellte der ukrainische Nationalismus keine Alternative dar.
Die entschieden „sowjetische“ Orientierung macht erklärlich, weshalb aus Transnistrien besonders rabiate Gegner des politischen Liberalismus kamen wie der Volksdeputierte und „Schwarze Obrist“ Blochin, der wie seine Kameraden Alksnis und Petruschenko den Bürgerkrieg gegen die Demokratie öffentlich für unvermeidlich hielt und über einen chilenischen Weg zur Marktwirtschaft nachdachte. Inzwischen führen Pilgerreisen vieler russischer Reichsfreunde in die selbsternannte Republik — von den antisemitischen Altstalinisten über die Monarchisten bis zu den Faschisten Jirinowskijs, die nicht nur das Baltikum, sondern auch Finnland zurückhaben möchten.
Die ehemalige Sowjetrepublik Moldawien ist ein Teil des ehemaligen Bessarabien bzw. der Osthälfte des ehemaligen rumänischen Fürstentums Moldau, welche 1812 an Rußland kam. Bessarabien wurde damals russische Provinz und Teil der russischen Geschichte. Die rumänische Bevölkerung bestand überwiegend aus Bauern. Daneben gab es Landstriche, in denen Ukrainer, Bulgaren oder Gagausen wohnten. Moskau siedelte an einigen Stellen auch deutsche Bauern an. Die städtischen Bevölkerungen bestanden überwiegend aus Russen, Ukrainern oder Juden.
Ein rumänisches Bürgertum entwickelte sich nur ansatzweise. Herrschende geistige Macht unter den Rumänen — den „Moldovanen“ — blieb daher die orthodoxe Kirche. Der Russifizierungsdruck seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trug dazu bei, das Rumänische in Bessarabien zu einer „Bauernsprache“ zu machen, d.h. einer Sprache, die im alltäglichen Verkehr noch verwendet werden konnte, die aber nicht für höhere Aufgaben — zur Kommunikation in Politik und Wirtschaft etwa — taugte. Nur die Rückständigkeit des Russischen Reiches und die doppelte Rückständigkeit Bessarabiens verhinderten, daß das Rumänische hier schon im 19. Jahrhundert ausstarb.
Ein Land von Bauern
Ganz war ein rumänisches Selbstbewußtsein allerdings nicht zu verhindern. Immer wieder wurden Schulen geschlossen, Zirkel verboten oder Bücher konfisziert; so konnte eine kleine Nationalbewegung entstehen, die sich 1918 durchsetzte. Die nationalistische moldauische Tradition war und ist seit ihrer Schöpfung im ausgehenden 19. Jahrhundert der Sozialstruktur entsprechend religiös und agrarromantisch.
Mit den meisten Stimmen der ethnischen Minderheiten beschloß das nach Nationalitäten quotierte Parlament Bessarabiens 1918 nach nur zwei Wochen Unabhängigkeit den Anschluß an Rumänien. Die Minderheiten waren die ersten, die den Anschluß bedauern sollten. Aber auch die Moldovanen hatten Grund zur Klage. Rumänien, das sich struktur- und kulturpolitisch an Frankreich orientierte, hatte keinen Platz für regionale bessarabische Eigenarten und keine Verwendung für hinterwäldlerische bessarabische Beamte und Lehrer; ihr Rumänisch war ungeschliffen, ihre Umgangsformen unbeholfen. Die Bukarester übernahmen in Bessarabien die Rolle unserer „Besserwessis“. Daß es heute auch unter der rumänischen Bevölkerung Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung mit dem Mutterland gibt, erklärt sich aus jener Zeit.
Sowjetrußland — bzw. ab 1922 die UdSSR — erkannte den Anschluß Bessarabiens an Rumänien nie an. Auf der östlichen Seite des Dnestr, in Transnistrien, schuf sie die eine Autonome Sowjetrepublik Moldawien, die den fortbestehenden sowjetischen Anspruch symbolisierte. Die ethnische Zusammensetzung Transnistriens war etwas anders als die des übrigen Bessarabiens; der Anteil der nichtrumänischen Bevölkerung war höher.
1940 kam Bessarabien aufgrund eines sowjetischen Ultimatums, dem sich Rumänien fügen mußte, an die Sowjetunion. Schon 1941 aber kehrten die rumänischen Truppen als Verbündete der Deutschen zurück. Ihr Hauptquartier lag in Odessa. Vor allem Transnistrien wurde nun zum Schauplatz ungeheurer Grausamkeiten. Der größte Teil der Juden Odessas und Bessarabiens wurde hier von Deutschen und Rumänen gemeinsam ermordet.
Ende August 1944 zog die Rote Armee in Bukarest ein. Bessarabien wurde aufgeteilt: Sein südlicher Teil mit Cetatea Alba (türkisch Akkerman, russisch Belgorod) wurde der Ukraine zugeschlagen, der nördliche Teil mit der Hauptstadt Kischinjow wurde zur Sowjetrepublik Moldawien.
Moldawien wurde kollektiviert und industrialisiert. Die Industriearbeiterschaft und das technische und administrative Leitungspersonal wanderten überwiegend aus Rußland und der Ukraine zu. Darüber hinaus wurde Moldawien auch bewußt russifiziert. Das öffentliche Leben wurde auf die russische Sprache umgestellt; wer etwas werden wollte, mußte perfekt Russisch können.
Selbst die moldauische „Identität“ wurde umgeschrieben. Die Moldawier galten nun als eigene Nation. Stalin ließ durch sowjetische Linguisten nachweisen, daß das „Moldawische“ zwar eine romanische Sprache wie das Rumänische sei und daß es mit jenem in einem gewissen Verwandtschaftsverhältnis stünde; von einer Identität sollte jedoch keine Rede sein. Moldawisch durfte nicht mehr mit lateinischer, es mußte mit kyrillischer Schrift geschrieben werden.
Damit niemand auf dumme Gedanken kommen konnte, wurden schließlich alle kulturellen Kontakte zu Rumänien rigoros gekappt. Es gab keine rumänischen Bücher, keine rumänischen Filme, nicht einmal rumänische Konzerte in Moldawien. Diese Situation dauerte bis 1988 an.
Die neue Nationalbewegung wurde— wie in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken — zunächst von der kulturellen Intelligenz getragen. Diese war durch die Russifizierung am meisten bedrängt und hatte durch eine Rückbesinnung auf das rumänische kulturelle Erbe am meisten zu gewinnen. Der Kampf für die Menschenrechte und die staatsbürgerlichen Freiheiten, für demokratische Verhältnisse und für wirtschaftliche und ökologische Sanierung ging wie in anderen Sowjetrepubliken Hand in Hand mit dem Kampf für die nationale Selbstbestimmung.
Vom Sprachenkampf zum Widerstand
Wie in den anderen Republiken gewann die nationale Symbolik mit steigender Massenmobilisierung ein Übergewicht. Die pragmatisch taktierenden Reformer wie der heutige Präsident Mircea Snegur, die ihr politisches Handwerk im KP-Apparat gelernt hatten, ließen sich von den radikaleren Anhängern nationaler Unabhängigkeit antreiben.
Einer der ersten Erfolge der Nationalbewegung war 1989 die Durchsetzung der lateinischen Schrift und die offizielle Anerkennung der Identität des Rumänischen und des Moldawischen. Rumänisch wurde offizielle Staatssprache— auch wenn es noch einiger Zeit bedurfte, bis sie sich im internen Verkehr des Staats- und Wirtschaftsapparats durchsetzte.
Die nichtrumänischen Minderheiten sahen in der Rumanisierung eine Bedrohung. Diejenigen, deren Muttersprache Russisch war, hatten bisher keine weitere Sprache der Sowjetunion lernen müssen. Sie sahen sich mit der Forderung konfrontiert, die Staatssprache zu erlernen. Die Russischsprachigen wurden aus einem heimischen und dominierenden Bevölkerungsteil zur Minderheit. Die Situation der anderen ethnischen Minderheiten war vergleichbar, vor allem die der Ukrainer, der Gagausen und der Bulgaren. Sie hatten als Zweitsprache höchstens Russisch gelernt, aber nicht Rumänisch, das bis dahin weder Sozialprestige verliehen noch beim Aufstieg behilflich gewesen war.
Der sich mit dem Sprachgesetz abzeichnende ethnische Widerstand war vor allem bei jenen Sozialgruppen stark, deren Zeitbudget und Vorbildung das Erlernen neuer Sprachen erschwert: der technischen und der administrativen Intelligenz, den Bauern und den Arbeitern.
Bei den anderen Sozialgruppen setzte der Widerstand früher ein. Allerdings entstand er nicht „spontan“ oder „an der Basis“. Seine Organisatoren waren Sozialgruppen, die das Organisieren beherrschten — Ingenieure, wirtschaftsleitende Kader und Parteifunktionäre der Industriereviere. Ihr persönliches Interesse band sie sprachlich und kulturell ans Russische und sozial an die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Strukturen der Sowjetunion. Den Primat hatte ein Interesse am Fortbestand der überkommenen Produktions- und Herrschaftsstrukturen. Die „internationalistischen“ Fronten waren daher im sowjetischen Sinne konservativ. Sie schürten die ethnischen Marginalisierungsängste. So tendierten politische und ethnische Polarisierung zur Konvergenz.
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