: Atomarer Fehlerteufel im Schrottreaktor
■ Fast sechs Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl gaben die russischen Behörden zwar den Austritt von Radioaktivität in dem baugleichen Reaktortyp von Sosnovy Bor zu, verschwiegen aber...
Atomarer Fehlerteufel im Schrottreaktor Fast sechs Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl gaben die russischen Behörden zwar den Austritt von Radioaktivität in dem baugleichen Reaktortyp von Sosnovy Bor zu, verschwiegen aber zunächst Menge und Intensität. Die Internationale Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) stufte die Störung als „schweren Zwischenfall“ ein.
Der Fehlerteufel kehrt an seinen Ausgangspunkt zurück. In Sosnovy Bor, wo vor 17 Jahren der erste große Atomunfall mit einem damals brandneuen Reaktor der Tschernobyl-Serie zu einer geheimgehaltenen radioaktiven Wolke führte, hat es gestern nacht wieder gekracht. Um 00.37 Uhr deutscher Zeit hat die Notfallsystem Block drei des Atomkraftwerks 80 Kilometer von St. Peterburg abgeschaltet. Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen war mindestens eine der über 1.600 Druckröhren des 1.000-Megawatt-Druckwasserreaktors geplatzt und entließ große Mengen heißen Dampfs in das Reaktorgebäude. Nach Informationen von Bundesumweltminister Töpfer belastete der Dampf die Reaktorhalle mit maximal 6.000 Curie Radioaktivität (1 Curie = 37 Milliarden Bequerell). Diese Reaktoren, so Töpfer, seien „nicht nachrüstungsfähig und gehörten abgeschaltet“.
Klar ist, daß die Bedienungsmannschaft den Reaktor nach der Schnellabschaltung in einen nicht mehr kritischen Zustand bringen konnten. Sie mußten aber gleichzeitig über Filter größere Mengen Radioaktivität an die Außenwelt abgeben. Die Belastung der Reaktorhalle war nach Töpfers Angaben gestern nachmittag auf 300 Curie gesunken. Der russische Atomminister Viktor Michailow habe eine Untersuchungskommission eingerichtet.
Nachdem die russischen Behörden am morgen zunächst darauf beharrt hatten, es sei keine Radioaktivität ausgetreten, die über den (russischen) Grenzwerten liege, korrigierten sie sich gegen mittag. Der Sprecher der Atomaufsichtsbehörde der GUS, Juri Rogoschin, erklärte, die freigewordene Radioaktivität sei fünfmal größer als die Grenzwerte. Die internationale Atomenergiebehörde in Wien (IAEA) erklärte, die Werte für radioaktives Jod lägen zehnmal über den international erlaubten Standards. Erhöhte Werte meldeten gegen mittag auch finnische Meßstationen. Nach Informationen der taz wehte der Wind am Unglücksmorgen mit vier Metern pro Sekunde Richtung finnische Küste. Auch der Deutsche Wetterdienst aus Offenbach meldete für die Region Wind aus Süd-Süd-West, also Richtung Finnland.
Mittags hatte der Wind nach finnischen Informationen gedreht. Von der Wolke betroffen sind jetzt offenbar zentrale Teile Rußlands. Eine Delegation der finnischen Strahlenschutzkommission, die zufällig im Reaktor weilte, teilte telefonisch in Helsinki mit, daß sie den Unfall als „ernst und mit Gefahren für die Umwelt“ einschätze. Die Lage in der Stadt sei aber normal, es gebe keine besonderen Sicherheitsmaßnahmen oder Absperrungen. In Schweden war gegen Mittag keine Radioaktivität gemessen worden, aber die schwedische Reaktorsicherheitskommission erinnerte noch einmal an ihren Alarmruf von vergangenem Monat. Damals hatten schwedische Experten nach einem Besuch im AKW die sofortige Abschaltung verlangt.
Die IAEA war vom russischen Atomministerium schon am frühen Morgen über den Unfall informiert worden. „Ein deutlicher Fortschritt“, kommentierte IAEA-Sprecher Hanns Meyer. Meyer wahrte aber Distanz zur russischen Einschätzung des Unfalls. Die Russen hatten den Unfall als Stufe „drei“ auf der internationalen Bewertungsskala von 0 bis 7 gemeldet. In der Sprache der Atomlobby heißt daß, in Sosnovy Bor passierte ein „schwerer Zwischenfall“, bei dem „Radioaktivität über die von den Behörden festgelegten Grenzwerte hinaus“ freigeworden sind. Nach der Einstufung „wären aber keine Notfallmaßnahmen für die Bevölkerung notwendig“, so Meyer. Die Skala ist erst im April 1990 eingeführt worden, sodaß Vergleichmaßstäbe fehlen, die IAEA selbst nennt aber den verheerenden Brand im AKW Vandellos in Spanien im 1989. Damals hatten die spanischen Techniker nach einem Brand drei Tage gebraucht, den Reaktor unter Kontrolle zu bringen.
Das AKW Sosnovy Bor ist für die internationale Atomgemeinde kein unbekannter Ort. 1974 ging dort der Prototyp der RBMK-Tschernobyl- Meiler in Betrieb. Schon im folgenden Jahr, im November 1975 wäre der Bedienungsmannschaft des Prototyps die Maschine beinahe um die Ohren geflogen. Ein Teil der Brennelemente war geschmolzen, eine Reihe Druckröhren brachen, und Radioiaktivität gelangte in die Atmosphäre. Wegen der damaligen Westwinde konnten die sowjetischen Behörden den Unfall dem Westen verheimlichen. Das genaue Ausmaß des Schadens ist nach wie vor nicht bekannt; allerdings waren die bei den Unfall festgestellten Mängel so gravierend, daß eigentlich ein Baustopp der Tschernobyl-Reihe hätte erfolgen müssen. Den Sowjets war das Problem durchaus bewußt, wie ein Brief des Kurtschatow-Atominstituts an den Hauptkonstrukteur der Anlage belegt. Die Wissenschaftler hatten umfangreiche Verbesserungen des Reaktors gefordert.
Felix Matthes vom Freiburger Öko-Institut hat den verheerenden Zustand des AKWs im vergangenen September selbst in Augenschein nehmen können. „Schon der erste Druckanzeiger, den wir sahen, war defekt“, so Matthes zur taz. „Der Drucker, der die kompletten Computeranzeigen immer dokumentieren sollte, hatte ein defektes Farbband. Alles war unlesbar. Und die Kühlung für den Antriebsmotor der Steuerstäbe (zum Abschalten).“ Matthes' Fazit: „Kann man nur abschalten.“
Heute fordert die westliche atomindustrie unisono, daß die gemeingefährlichen RBMK-Reaktoren sofort abgeschaltet gehören. Friedrich Wilhelm Heuser von der quasi regierungsoffiziellen Gesellschaft für Reaktorsicherheit sieht „äußerst gravierende Sicherheitsmängel. Eine Nachrüstung kommt auch theoretisch nicht in Frage.“ Auch Siemens- Vorstand Adolf Hüttl erklärte kürzlich unmißverständlich, daß diese Reaktoren „wegen ihrer grundlegenden Auslegungsschwäche“ nicht nachrüstbar seinen. Hüttl schimpft gleichzeitig, daß die bisher von der EG zur Verfügung gestellten Gelder nur für immer neue Sicherheitsstudien in Osteuropa ausgegeben würden, statt endlich für „Maßnahmen, damit der Sicherheitszustand der Anlagen verbessert wird“.
Die Stadtväter von Sosnovy Bor sind sich der Gefahren durch die vier Tschernobyl-Reaktoren in der Stadt nicht erst seit gestern bewußt. Sosnovy Bor sucht seit etwa einem Jahr international nach Alternativen zu dem Atomkraftwerk. Dabei wurde auch das deutsche Umweltministerium um Rat gefragt. Die Stadt ist heute eine reine Atomsiedlung. Dort stehen nicht nur die vier Tschernobyl-Meiler, darunter der Prototyp der Baureihe von 1974. Die in den sechziger Jahren aus dem Boden gestampfte Ostsee-Stadt beherbergt außerdem mehrere Atomforschungsinstitute mit drei Forschungsreaktoren, ein großes Atommülllager und Militäranlagen. 500.000 Kubikmeter Ostseewasser werden stündlich dem Meer entnommen und dann 8 Grad Celsius wärmer wieder in die Ostsee entlassen. Die 60.000 Einwohner waren bis 1990 streng von der Außenwelt abgeriegelt. Selbst für Verwandtenbesuche bedurfte es einer schriftlichen Genehmigung.
Die Stadt hat jetzt zusammen mit St. Peterburg eine internationale Ausschreibung für die künftige Energie- und Wärmeversorgung der Region gemacht. Neben russischen Unternehmen haben auch die Siemens-Tochter „Nuclear Power International“ und der schwedische „ASEA Brown Boveri“ Konzern Informationen über ihr AKW-Programm geliefert. Wolfgang Breyer von Siemens-KWU betont aber, das seien „keine konkreten Angebote“. Auch Matthes kennt den wettbewerb. „Das Problem ist, der Chef des Ausschreibungskomitees hat keine Ahnung von den technischen Richtlinien im Westen. Die Ausschreibung wird dadurch sehr AKW-lastig.“ Was in Sosnovy Bor versucht werde, sei „technikverkauf“. Ohnehin rechne niemand mit einem Ersatz der AKW vor 1996. Matthes fordert ganz dringend Beratungskapazitäten für die dortigen Stadtväter, damit die Kommunalpolitiker die Entscheidungen erwägen könnten. Hermann-Josef Tenhagen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen