: GROSSE UTOPIE
■ "Rekonstrukutivismus" in Frankfurt/Main: Der Finale Rettungsschuss
Die Lebenswelten der russischen Avantgarde standen untereinander in zahlreichen Konflikten: Die -ismen beanspruchten jeweils für sich die absolute und monopolistische Wahrheit. Malevitsch konnte nicht mit Chagall oder Kandinsky, Filonow nicht mit Lissitzky. Wenn wir jedoch die größte Ausstellung der russischen Avantgarde, die es je gab und wahrscheinlich je geben wird, betrachten, stellen wir fest — ganz anders als bei den Jüdischen Lebenswelten —, daß es für diese Kunstwerke und Kunstrichtungen durchaus gemeinsame Grundlagen gibt. In dieser Vielfalt ist eben die antipluralistische Haltung verblüffend. Sie mußte zu einer monopolistischen, totalitären Kunsttheorie und -praxis führen. Aus der Entfernung der Zeit und der Kulturen betrachtet, sind die Unterschiede zwischen den damals eifersüchtig konkurrierenden Richtungen weniger tragfähig als ihre Gemeinsamkeiten. Die Frankfurter Ausstellung erscheint als weiterer Beleg dafür, daß die Biederkeiten des Sozialistischen Realismus eine Konsequenz der Avantgarde waren.
Die Große Utopie, der Nicht-Ort, ist für diese Ausstellung ein sehr passender Titel: Zu einem Nicht-Ort ist die Sowjetunion, das Herkunftsland dieser Kunst tatsächlich geworden. Als eine Utopie erwiesen sich die Ideen der sozialen Revolution, aber auch der Moderne als der „reinen Lehre“, die ästhetische Wertungen diktieren kann; eine Lehre, die das Terrain der Kunst unbestraft verläßt, um das sogenannte „Alles“ zu erobern. Hier sind die Grenzen der Expansion von Ansprüchen deutlich geworden. Genauso wenig, wie die Revolution die Grenzen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv vernichten darf, darf die Kunst die Grenzen zwischen dem Alltag und dem Außergewöhnlichen vernichten. Der Sozialistische Realismus ist die eine Fortsetzung der Avantgarde mit anderen (konsequenten) Mitteln, wie der Stalinismus eine Fortsetzung der bolschewistischen Revolution ist.
Das Schicksal des Futurismus in Italien zeigt, was mit dem deutschen Expressionismus, ja auch mit dem russischen Konstruktivismus passiert wäre, wenn die zufälligen Geschmacksvorlieben der Tyrannen anders ausgefallen wären. Die Entartete Kunst-Ausstellung war ein Ergebniss des „Kulturkampfes“ in der höchsten Etage des Nazi-Machtapparates: Wäre es nach Joseph Goebbels gegangen, wäre der Expressionismus zur braunen Hofkunst heruntergekommen (Casus Nolde).
Der stalinische Terror wäre nicht denkbar gewesen ohne die Mitwirkung immer neuer Wellen von Denunzianten, Spitzeln, Propaganda-Apparatschiks, Aufsehern und Mördern, die in den folgenden Etappen von Tätern zu Opfern wurden. Aber das trifft auch zu für die Künstler der Avantgarde. Als sie die Überhand gewonnen hatten, zum Beispiel in Moskau an der Kunstschule Vchutemas oder im INChUK, dem Institut der Künstlerischen Kultur, bekämpften sie die Konservativen mit harten Bandagen. Malevitsch hat Chagall aus Witebsk praktisch vertrieben, Kandinsky mußte den Konstruktivisten und Produktivisten weichen; gewiß, es handelte sich nur selten um ultimative Maßnahmen (die den späteren Kunstmonopolisten des Sozrealismus recht und billig waren). Das Prinzip jedoch des Ausgrenzens und der einzig wahren Kunst wurde nicht von Stalin erfunden.
„Rekonstruktivismus“ könnte die Praxis der Ausstellungsmacher, die sich mit dreidimensionalen Objekten aus dem Bereich der russischen Moderne beschäftigen, heißen: Beinahe alles, was nicht flaches Bild ist, wurde in den letzten Jahren nach den alten Fotos oder Dokumenten rekonstruiert. Und das ist richtig! Nicht nur ist eine „maschinelle Rekonstruierbarkeit“ dieser Kunstwerke damit bewiesen, diese Praxis kann man sogar ausdrücklich als ein Handeln im Sinne der Künstler begrüßen.
Die Ausstellung bedeutet den finalen Rettungsschuß für diejenigen, die noch immer nicht begriffen haben, welche Rolle die um 1915 von der westlichen Moderne emanzipierte russische Kunst gespielt hat, aber leider auch für alle, die in Zukunft noch eine Megashow dieser Art veranstalten werden wollen. Aus historischen und finanziellen Gründen wird dies nicht mehr möglich sein.
„REKONSTRUKTIVISMUS“INFRANKFURT/MAIN:DERFINALERETTUNGSSCHUSS
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