: Bangladesch diskutiert über seine Geschichte
21 Jahre nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen Pakistan fordert ein öffentliches „Tribunal“ die Todesstrafe für einen „Kollaborateur“/ Vergangenheitsbewältigung und Diskussion um die Zukunft Bangladeschs als islamischer oder sekulärer Staat ■ Aus Dhaka Margret Sommer
„Todesstrafe für den Kollaborateur Golam Azam!“ Hunderttausende hatten sich gestern, am Unabhängigkeitstag von Bangladesch, auf einem großen Platz der Hauptstadt versammelt. Doch es handelte sich nicht um eine offizielle Feier zur 21jährigen Unabhängigkeit von Pakistan. Im Gegenteil: Die Regierung unter Khaleda Zia hatte noch Stunden zuvor gewarnt, die Organisatoren der Veranstaltung festzunehmen, und sogar mit Ausgangssperre gedroht. Trotz aller Warnungen hatte das „Komitee zur Wiederbelebung des Geistes des Unabhängigkeitskrieges“ jedoch seine Mobilisierung für ein öffentliches Tribunal fortgesetzt. Angeklagt war mit Golam Azam eine der Symbolfiguren der bislang unaufgearbeiteten Geschichte des Unabhängigkeitskampfes und der Kollaboration mit Pakistan. Nachdem gestern morgen bekannt wurde, daß sich die Polizei weigerte, gegen die Veranstalter vorzugehen, strömten die Menschen zum Veranstaltungsplatz. Die Sicherheitskräfte ließen zwar die Mikrofone kappen, doch die Anklage war bekannt und das „Urteil“ schnell gefällt: „Todesstrafe für den Kollaborateur Golam Azam!“
Die Trennung des damaligen Ostpakistan vom dominierenden Westen des Landes war vor 21 Jahren erst nach einem ungemein blutigen Krieg gegen die pakistanische Armee erreicht worden. Nachdem der Führer der Ostbengalen am 26. März 1971 die Unabhängigkeit Bangladeschs ausgerufen hatte, entstand nach der Kapitulation der pakistanischen Armee am 16. Dezember 1971 der neue Staat Bangladesch.
Nach einer wochenlangen öffentlichen Kampagne wurde dem nun „Angeklagten“ Golam Azam am 17.März dieses Jahres eine Anklageschrift zugestellt. Darin wird ihm „Gegnerschaft gegen den Unabhängigkeitskrieg von Bangladesch“ vorgeworfen. Er habe „zwischen dem 26. März und dem 16. Dezember zu Morden an der Bevölkerung, Plünderung, Brandstiftung und Vergewaltigung auf vielfach todbringende Weise erfolgreich aufgewiegelt und dabei Hilfestellung geleistet“. Er sei auch nach der Gründung des Staates in Verschwörungen gegen die Freiheit und Unabhängigkeit Bangladeschs verwickelt gewesen, heißt es weiter in der Anklageschrift.
Enttäuschte Hoffnungen nach dem Militärregime
Golam Azam war nach der Kapitulation der pakistanischen Armee 1971 nach Pakistan geflohen, wo er ein Komitee zur Wiederbefreiung Ostpakistans gründete. Er behielt seine pakistanische Staatsbürgerschaft und kehrte 1978 nach Bangladesch zurück, wo inzwischen unter General Ziaur Rahman ein Militärregime an der Macht war. Er begann sofort, die kleine propakistanische fundamentalistische Partei Jamat Islami zu organisieren. Dabei wurde er bis zu einem gewissen Grad durch die regierende Nationale Partei (BNP) General Zias unterstützt, der sich dadurch eine Schwächung der sekulären Awami Liga des gestürzten Präsidenten Mujibur Rahman erhoffte.
Auch unter dem folgenden Regime General Ershads konnte er unbehelligt in Bangladesch bleiben und die Jamat Islami zusammen mit ihrer Studentenorganisation ausbauen. Letztere tritt bis heute besonders durch ihre brutalen Überfälle auf demokratische Studenten hervor. So auch noch wenige Tage vor dem Tribunal: „Zwanzig Studenten der Universität Rajshahi die Sehnen an Händen und Füßen zertrennt, die Ohren abgeschnitten. Bisher ein Todesfall“, lauteten die Schlagzeilen am 18. März in allen Tageszeitungen Bangladeschs. Die islamische Studentenverbindung hatte demokratische Studentengruppen der Universität angegriffen. Die Hochschule wurde bis auf weiteres geschlossen. Ähnliche Vorfälle hatte es zuvor auch schon in anderen Städten gegeben. Verschiedene von der Bevölkerung geforderte Untersuchungskomitees waren jeweils nach kurzer Zeit im Sande verlaufen.
Nach Ershads Sturz im Dezember 1990 war die Forderung nach Verurteilung — oder zumindest Ausweisung — Golam Azams immer wieder im Parlament vorgebracht worden. Außer einigen heftigen Diskussionen jedoch geschah nichts. So entstand die Idee des Tribunals, um die Regierung unter Druck zu setzen. Initiatorin war Jaharana Imam, die Mutter eines im Unabhängigkeitskampf ermordeten Kämpfers. Zunächst fand sie Unterstützung insbesondere bei Intellektuellen, kulturellen Organisationen und ehemaligen Kriegsteilnehmern. Inzwischen unterstützten auch zahlreiche Mullahs und Imame, die eine Verzerrung der Lehre Mohammeds durch die Jamat Islami befürchten und die Gewalttaten gegen die Bevölkerung als unislamisch ablehnen, das Tribunal. Alle linken Parteien beteiligten sich schließlich an der Organisation des Tribunals. Nach anfänglichem Zögern entschloß sich auch die oppositionelle Awami Liga der Bewegung an.
Visionen des Unabhängigkeitskampfes
Die Regierung hingegen findet sich in der Klemme. Sie könnte sich des Problems leicht dadurch entledigen, daß sie die auslaufende Aufenthaltserlaubnis für Golam Azam nicht verlängert. Sie ist jedoch auf die Unterstützung der Jamat Islami angewiesen. Erst als der öffentliche Druck zu stark wurde, ließ sie Golam Azam in der Nacht zum Mittwoch festnehmen. Doch es war bereits zu spät, das Tribunal fand statt.
Tatsächlich jedoch ging es am 26.März nicht nur um die Verurteilung des Kriegsverbrechers Golam Azam. Die Jamat Islami verteidigt ihren Führer mit dem Argument, er habe damals eine andere Vision für die Zukunft Ostpakistans gehabt als die Unabhängigkeitskämpfer. Damit ist wohl die zentrale Frage berührt. Soll Bangladesch ein islamischer Staat nach pakistanischem oder arabischem Vorbild werden? Oder sollen die Ziele des Unabhängigkeitskrieges, eine sekuläre Demokratie zu errichten, verwirklicht werden? Diese Auseinandersetzung ist in Bangladesch nie zu Ende geführt worden, das war unter dem Militärregime auch nicht möglich. Möglich war jedoch, daß sich viele ehemalige Kollaborateure in hohen Machtpositionen etablierten. Auch dagegen sollte mit dem Tribunal protestiert werden.
Nachdem die revolutionären Ziele des Unabhängigkeitskrieges bereits unter dem ersten Präsidenten Mujibur Rahman zu Grabe getragen worden waren, setzte unter General Zia die erste Welle der Islamisierung ein, die unter General Ershad mit der Ausrufung der Islamischen Republik 1988 einen Höhepunkt erreichte. Nach Beendigung der 14jährigen Militärherrschaft schien eine offene Auseinandersetzung über die Zukunft Bangladeschs möglich. Doch in den vergangenen 15 Monaten wurden die meisten Hoffnungen enttäuscht. Die Wirtschaft stagniert, und die Korruption herrscht weiter.
Unter den Jugendlichen und zahllosen arbeitslosen jungen Männern in Bangladesch haben nur wenige eine Aussicht, ihre Zukunft selbst zu gestalten — die Mädchen und Frauen haben und fühlen meist erst gar keinen Anspruch darauf. Und so stellt sich für sie die Frage, ob Bangladesch überhaupt eine Zukunft habe. Die Jamat Islami antwortet mit Ja: als islamischer Staat in starker Anlehnung an Pakistan und Saudi-Arabien und gegen Indien.
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