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Geheimdienste nicht mehr zeitgemäß

■ Stellvertretender Chef des Bremer Verfassungsschutzes plädiert für radikale Reform der Dienste

Berlin (taz) — Die Frage: „Sind Geheimdienste heute noch zeitgemäß?“ beantwortete am Wochenende die überwiegende Mehrheit der TeilnehmerInnen eines dreitägigen Seminars der Berliner Abgeordnetenfraktion Bündnis 90/Grüne mit einem eindeutigen „Nein“. Auch Lothar Jachmann, stellvertretender Leiter des Verfassungsschutzes in Bremen, räumte ein, daß etwa der Bereich der Spionageabwehr nach den epochalen Veränderungen der letzten Jahre zu einem „Anachronimus“ geworden ist. Jachmann, ein in der ÖTV organisierter Gewerkschaftler und Mitverfasser der „Thesen zur Entmythologisierug des Vefassungsschutzes“, vermißte auch überfällige Konsequenzen in den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder. So wie die Behörden gegenwärtig verfaßt seien, könnten sie nur als „Teil eines verkürzten Demokratieverständnisses“ begriffen werden. In der heute praktizierten Form hätten sie keine Chance, dieses „Jahrtausend zu überleben“. Ob der Verfassungsschutz zeitgemäß ist, beantwortete Jachmann mit einen „Nein, aber“. Wer wie die Berliner Abgeordneten Renate Künast (Bündnis 90) oder Reinhard Schult (Neues Forum) für eine ersatzlose Abschaffung des Vefassungsschutzes plädiere, müsse auch sehen, daß sich dann die Polizeibehörden umstandslos der nachrichtendienstlichen Mittel bemächtigten — schon heute müßten die Verfassungsschützer der Polizei „auf die Finger klopfen“, damit sie in diesem Bereich nicht tätig werde. Auch Wolfgang Pfaff, von der Karlsruher Bundesanwaltschaft jüngst an die Spitze der Verfassungsschutzbehörde in Brandenburg gewechselt, räumt ein, daß die „Spionageabwehr neu bewertet“ werden müsse. Überflüssig sei sie allerdings nicht. Er nannte es eine naive Vorstellung, daß „in diesem verdichteten Bereich Deutschland eine geheimdienstfreie Zone“ entstehen könnte.

Die Legitimität der Verfassungsschutzbehörden ist für Pfaff auch nach dem Wegfall der Ost-West- Konfrontation grundsätzlich nicht in Frage gestellt. Aufgabenfelder blieben nach wie vor der „unbewältigte Linksterrorismus“, als neues Feld sei der ansteigende Rechtsextremismus hinzugekommen. Pfaff, der sich für eine effektive parlamentarische Kontrolle seiner Behörde aussprach, will allerdings auf die nachrichtendienstlichen Mittel, wie den Einsatz von V-Leuten oder das Überwachen von Telefonaten, nicht verzichten. Am Beispiel rechtsextremistischer Gruppen machte er einen „Kernbereich“ aus, in dem die Verfassungsschutzbehörden ohne das Geheimdienstinventar nicht auskommen könnten. Der Schwerpunkt seines Amtes werde sich aber in den nächsten Jahren möglicherweise von einer reinen Repressionsfunktion weg und hin zur „Straftatenverhütung“ entwicklen. wg

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