: Intellektuelle auf der langen Suche nach Europa
In der Slowakei debattierte das „Helsinki-Bürgerforum“ den Nationalismus ■ AUS BRATISLAVA SABINE HERRE
Als die „Helsinki Citizens Assembly“ (HCA) (Helsinki-Bürgerforum) im Oktober 1990 in Prag zu ihrer Gründungsversammlung zusammentrat, da feierte sie vor allem das Ende des Kalten Krieges. Jahrelang war der Dialog zwischen den osteuropäischen „Dissidenten“ und der westeuropäischen Friedens- und Ökologiebewegung von den allgegenwärtigen Staatssicherheitsdiensten be- und verhindert worden — nun wurden drei Tage lang die Perspektiven Europas diskutiert. Dieses sollte — so die anspruchsvolle Grundsatzerklärung der HCA — aus „blockfreien, demokratischen, ökonomisch prosperierenden, sozial gerechten und ökologisch verantwortlichen“ Staaten gebildet werden.
Gleichzeitig wußten die Vertreter der Bürgerinitiativen jedoch nicht, ob diese erste nicht zugleich auch die letzte Versammlung der HCA sein würde. Schließlich war ein Großteil der osteuropäischen Initiatoren des entstehenden Netzwerkes, das die europäische Integration der Staatsapparate durch ein Zusammenwachsen „von unten“ ergänzen sollte, inzwischen selbst zu Teilen dieser Apparate geworden. Der tschechoslowakische Außenminister Jiri Dienstbier hatte mit der Feststellung, daß „die ,civil society‘ in der CSFR nun die Regierungsmacht übernommen hat“, Aufgaben und Bedeutung der Versammlung in Frage gestellt.
Eineinhalb Jahre später hat die Realität die Euphorie eingeholt. Nationalismus und Rassismus, die „neuen Mauern in Europa“, waren die Themen der zweiten Vollversammlung der HCA im slowakischen Bratislava am Wochenende.
Selbst Martin Palous, der Stellvertreter Jiri Dienstbiers, mußte bei seiner Eröffnungsansprache eingestehen, daß die Konflikte in den neuen Krisengebieten Osteuropas, in Jugoslawien und den GUS-Staaten, nicht allein von den Politikern gelöst werden könnten. Die unbewältigte „realsozialistische“ Vergangenheit und ideologischer Antikommunismus bedrohen die demokratischen Regierungen zunehmend.
An einer ausführlichen Darstellung dieser Konflikte waren in erster Linie die Bewohner der Krisengebiete selbst interessiert. Doch daß die Mehrheit der rund 600 TeilnehmerInnen aus den Ländern des ehemaligen „Ostblocks“ kam, beeinträchtigte die sich aus Teilnehmergebühren und Spenden finanzierenden HCA nicht nur in finanzieller Hinsicht. Entscheidender ist, daß sich hier eine neue Ost-West-Spaltung ankündigte.
Durch das Übergewicht der Ukrainer, Armenier und Rumänen, die abstritten, daß es in ihren Ländern Fremdenfeindlichkeit gebe, wurde die Nationalismus-Diskussion in den Vordergrund gestellt. Über Rassimus diskutierten fast ausschließlich Westeuropäer mit „ihren“ Immigranten aus der „Dritten Welt“. Und während die Mehrheit der Westeuropäer durchaus bemüht war, zu verstehen, „warum im Osten ständig neue Nationalstaaten enstehen“, brachten die sich bewußt als „Nationalisten“ bezeichnenden Ukrainer für die westeuropäische Kritik des Nationalismus kein Verständnis auf.
Einen Versuch, die „Nationalismus-Position“ der HCA zu formulieren, unternahm Sonja Licht, die aus Belgrad stammende „Chair-woman“ der Bürgerversammlung. Es müsse unterschieden werden zwischen einem sogenannten „positiven Nationalimus“, der in den Ländern, denen ein künstlicher Sowjet-Internationalismus aufgezwungen worden sei, identitätsstiftend wirken könne, und einem „negativen“ Nationalismus, der sich in Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit äußere. Nicht thematisiert wurde jedoch die sich daran anschließende Frage, warum und an welchem Punkt dieser positive in den negativen Nationalismus „umschlagen“ kann.
Vor allem die Westeuropäer waren es aber auch, die sich mit der Suche nach „Konfliktlösungen“ beschäftigten. Bei den grundsätzlichen „theoretischen“ Diskussionen wurde dabei immer wieder betont, daß es zunächst notwendig sei, den „Konflikt“ nicht zu leugnen, sondern ihn eindeutig zu benennen. Erst wenn der Bürger die Strukturen, in denen er lebt, verstehe, könne seine Furcht vor ihnen überwunden werden. Zudem müßten wir alle endlich begreifen, daß es keine idealen, konfliktfreien Strukturen gebe.
Konkretere Lösungen wurden dagegen in der Arbeitsgruppe „Selbstbestimmung und Menschenrechte“ gesucht. Wenn verhindert werden solle, daß auch die kleinste ethnische Gruppe meint, ihre nationalen Rechte nur in einem eignen Nationalstaat verwirklichen zu können, müßten die Rechte dieser Minderheiten in den bereits bestehenden Staaten verbessert werden. Verbessert werden müßten dafür jedoch auch die internationalen Rechtsnormen. Bisher würden Minoritäten keine „kollektiven Menschenrechte“ zuerkannt, im Rahmen des KSZE-Prozesses würden bisher allein die Rechte derjenigen Minderheiten, die einen „Mutterstaat“ haben, thematisiert.
Immer wieder tauchten in den Diskussionen aber auch „europäische Utopien“ auf. Da die Voraussetzung für die Bildung eines Staates in der Vergangenheit stets das „Erlebnis einer schicksalhaft verbundenen Gemeinschaft“ gewesen sei, könne ein vereinigtes Europa nur entstehen, wenn auch die Europäer sich als „Schicksalsgemeinschaft“ begreifen würden. Die Nationalstaaten des 19.Jahrhunderts seien mit denen des zwanzigsten nicht mehr zu vergleichen; heute hätten diese einen Großteil ihrer Kompetenzen bereits an europäische Intsitutionen wie die EG abgetreten, ein weiterer könne von den „Regionen“ übernommen werden. Bei einer ständigen Erweiterung der Zahl der sogenannten Euro-Regionen — einer Zusammenarbeit zwischen Grenzregionen — würde regionale, transnationale Identität gestärkt und Nationalismus überwunden werden. Und schließlich — so eine Teilnehmerin frei nach Marx — würde dies zum Absterben der Nationalstaaten führen.
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