: Olympischer Geist wieder gesichtet!
■ Trotz vermeidbarer Organisationspannen und anhaltender Diskriminierung durch das Internationale und Nationale Olympische Komitee sind die Paralympics für die Behindertensportler ein Erfolg
Tigne (dpa) — In ganz Albertville hatte man ihn gesucht: Als sich Nieminen von der Schanze stürzte, Tomba im Affentempo zu Tal heizte und die Duchesnays ihre Kür vermasselten. Doch der vielzitierte olympische Geist wollte einfach nicht kommen. Nun weiß man auch, warum: Er hat sich schlicht verspätet. Denn pünktlich zu den Paralympics, den Spielen der Behinderten, kam er angegeistert.
Ausgerechnet in den häßlichen Appartementhäusern im 2.100Meter hoch gelegenen Tignes-Val Claret. 472 Athleten aus 24 Ländern trainieren, leben und feiern zusammen. Sprachengewirr erfüllt die Eingangshalle des paralympischen Dorfes, Gelächter dringt aus der kleinen Bar daneben — bei den Winterspielen der Behinderten erleben die Sportler, was die Teilnehmer der Olympischen Winterspiele einen Monat zuvor so schmerzlich vermißt haben: Völkerverständigung und das Gefühl, zusammenzugehören. „Eine Superstimmung, bei uns ist der olympische Geist zu Hause“, sagt Skirennläufer Markus Pfefferle, dreimaliger Medaillengewinner aus Schönberg.
Doch das Olympia-Gefühl darf diesen Namen nicht tragen. Seit vier Jahren heißen die Spiele „Paralympics“ (Kürzel aus „Parallel Olympics“), weil das Internationale Olympische Komitee (IOC) sich an der bisherigen Bezeichnung störte. „Auf meiner Medaille von 1980 steht Olympia“, erinnert sich die Reutlingerin Reinhild Möller wehmütig. Streng ist die Trennung zwischen behinderten und „richtigen“ Olympioniken auch in Deutschland. „Das NOK hat entschieden, daß die Kleidung der Olympia-Mannschaft vorbehalten ist. Das wollten auch die Aktiven. Die Behinderten sollten sich eine eigene Uniform wählen. Dabei helfen wir“, sagt Walther Tröger, Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland (NOK). Für Reiner Krippner, Präsident des Deutschen Behindertensport-Verbandes (DBS) ist das „klar diskriminierend“.
Athleten aus Österreich oder den USA kennen diese Probleme nicht. Sie ärgern sich aber über den Ablauf der Wettbewerbe in Tignes. „Alle Teams haben gegen die willkürliche Zusammenlegung einiger Schadensklassen protestiert, aber nur Schulterzucken geerntet“, kritisiert US- Delegationsleiter Jack Benedick. Dazu kommen Kleinigkeiten, die nerven. „Wenn bloß diese Organisation nicht wäre...“, schimpft Reinhild Möller. Ein Beispiel: Die ersten nordischen Wettbewerbe fielen aus, weil das Pistenpersonal die Eröffnungsfeier besuchte, anstatt die Loipen zu spuren. Die Sportler in dem überschaubar kleinen paralympischen Dorf gegenüber des Skistadions haben sich jedoch bisher nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Alle geben sich gegenseitig Ratschläge, man kennt sich.“
Mit 110 Sachen auf einem Bein runter
Einzig wenn sich die klugen, besorgten Tips von außen mehren, werden die Sportler ungehalten. „Die Leute sollten endlich aufhören, uns das Denken abnehmen zu wollen. Das können wir selbst noch ganz gut.“ Der sonst so freundliche Frank Höfle wird wütend, wenn er gewisse Fragen hört.
Fragen, warum jemand mit nur einem Bein mit über 110 Stundenkilometern eine alpine Abfahrt herunterrast, sich im Sitzen durch Kippstangen kämpft oder sich mit Kinderlähmung kilometerweit über die Langlaufloipe quält. Behinderte zeigen bei den Paralympics in Tignes Leistungen, die „gesunden“ Zuschauern Bewunderung, manchen aber auch Kopfschütteln abnötigen. Darf jemand seinen ohnehin benachteiligten Körper derart fordern, daß er seine intakten Gliedmaßen möglicherweise auch noch gefährdet?
Der sehbehinderte Höfle, Seriensieger aus Isny, mag noch über alle Zweifel erhaben sein, da seine Muskeln und Gelenke völlig heil sind. Bei körperbehinderten Athleten aber schließt Andreas Schmid, Mannschaftsarzt im Deutschen Behindertensport-Verband (DBS), die Gefahr der Überlastung nicht aus. Dennoch überwiegen für den Mediziner an der Universität Freiburg die positiven Aspekte des Leistungssports Behinderter. Er ist nach drei Jahren Arbeit im DBS überzeugt: „Es gibt kein Argument, den Leuten den Leistungssport zu verbieten.“
Eine Grenze zwischen Sinn und Unsinn des Leistungssports zieht Schmid aber schon. „In der Satzung des Verbandes steht klar, der Sport darf dem Athleten nicht schaden“, erklärt der Arzt, der dies mit seinem Kollegen Gerhard Ascher überwacht. Notfalls könnten sie einen Sportler aus dem Kader ausschließen, was bisher aber noch nicht nötig gewesen sei. „Nur einer hat vor den Spielen eine Woche Trainingsverbot bekommen.“ Schmid bescheinigt den Athleten große Eigenverantwortung. Es habe trotz regelmäßiger Kontrollen auch noch keine Dopingfälle gegeben, „weil die Sportler sowieso eine Abneigung gegen Medikamente haben“. Andrea Wimmer
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