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Offenbarungseid

■ Die Staatsanwaltschaft steht im Fall Honecker unter Druck

Offenbarungseid Die Staatsanwaltschaft steht im Fall Honecker unter Druck

Allein der Aufwand macht stutzig. Wofür braucht es fünfhundert Polizisten und dreißig Staatsanwälte, um ein Parteiarchiv zu überprüfen? Warum diese Demonstration der Macht, wo doch alles seinen rechtsstaatlichen Gang geht und die Anklage gegen Honecker, Stoph, Mielke und andere wegen der Todesschüsse an der Mauer im kommenden Monat fertig ist? Ein Grund sind sicherlich die sich häufenden Unmutsäußerungen über den schleppenden Gang der Ermittlungen.

Am Tag der Einheit, dem 3. Oktober 1990, übernahm die Staatsanwaltschaft am Berliner Kammergericht die Ermittlungen gegen Honecker und andere ehemalige Regierungsmitglieder der untergegangenen DDR vom Generalstaatsanwalt in Ost- Berlin. Der hatte seit Dezember 1989 im Fall Honecker wegen Hochverrats, Veruntreuung und seit August 1990 auch wegen Anstiftung zum Mord nachgebohrt. Warum aber, fragt sich der juristische Laie, haben es die mittlerweile drei Staatsanwälte, die über dem Komplex Honecker brüten, auch eineinhalb Jahre später immer noch nicht zu einer vorzeigbaren Anklage gebracht, mit der Bonn in Sachen Rückführung Honeckers aus Moskau Druck machen könnte?

Die Schwierigkeiten scheinen aber wohl weniger im mangelnden Arbeitseifer der Staatsanwälte als in der Sperrigkeit der Materie zu liegen. Offiziell suchen die Ermittler nun Material, um die Anklage auch auf andere Politbüromitglieder wie Krenz und Hager erweitern zu können. Tatsächlich stecken die Ankläger aber auch gegen Honecker in erheblichen Beweisnöten, die nur ein Zufallsfund noch abmildern könnte. Im Dezember 1990 fischten die Fahnder das in der Öffentlichkeit als Schießbefehl Honeckers apostrophierte Papier aus dem Archiv des Nationalen Verteidigungsrates in Strausberg. Tatsächlich handelt es sich dabei um die Anlage zu einem Sitzungsprotokoll, in der die Diskussion kursorisch zusammengefaßt wird. Danach insistierte Honecker zwar ausdrücklich auf dem Gebrauch der Schußwaffe an der Grenze, nur daß die Sitzung bereits im Mai 1974 stattfand und die Bemerkung des Parteichefs formal bei den Grenzern keinen Niederschlag fand.

Statt dessen verabschiedete die Volkskammer 1982 ein Grenzgesetz, in dem der Gebrauch der Schußwaffe genau geregelt war und auf das sich auch alle Grenzsoldaten bezogen. Bei Licht betrachtet, ist der sogenannte Schießbefehl also bestenfalls ein Beleg für die Haltung Honeckers, aber kein Nachweis für seine Verantwortung gegenüber den Toten an der Mauer. Das sieht mittlerweile wohl auch die Staatsanwaltschaft so, und auch deshalb wäre sie für einen weiteren Hinweis auf Honecker so überaus dankbar — selbst wenn sich dieser im Rahmen einer Aktion finden sollte, die offiziell gar nicht Honecker gilt. Jürgen Gottschlich

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