: Wo Tag und Nacht Versteck spielen
■ Stippvisite in einer mehrfach umbenannten Stadt. Der Geburtsname Sankt Petersburg paßt nicht mehr richtig zu dieser weltoffenen Stadt, findet Barbara Kerneck. Und auch die Einwohner haben sich auf das...
Stippvisite in einer mehrfach umbenannten Stadt. Der Geburtsname Sankt Petersburg paßt nicht mehr richtig zu dieser weltoffenen Stadt, findet BARBARA KERNECK. Und auch die Einwohner haben sich auf das schick und ausländisch klingende Piter eingeschworen.
T
here are fifty ways to leave your lover“: der Taxifahrer fragt, ob mir die selbstaufgezeichnete Kassette gefällt — und sie gefällt mir sehr. Der junge Mann trägt eine Jacke im neuesten Western Look mit Fransen an den Schultern, eine federleichte Designerbrille und hat schon halb Europa bereist. Die Weltoffenheit St. Petersburgs hatte schon immer ihren Preis — unter dreißig US-Dollar ist die Fahrt vom Flughafen in die Stadt nicht zu haben. Dafür gibt es das Panorama umsonst. Das größte Freiluftmuseum der Welt hat sich nicht nur wegen seiner Lage auf zahlreichen Inselchen den Spitznamen „Venedig des Nordens“ verdient. Fast übersinnlich intensivieren sich hier die Visionen in den „Weißen Nächten“ im Juni. Diese Nächte sind Tage, weil man sich um vierundzwanzig Uhr auf dem Newskij-Prospekt noch einen Sonnenbrand holen kann, und weil sich zwischen zwei und fünf Uhr morgens die riesigen Straßen über die Newa plötzlich als Zugbrücken entpuppen. Wie metallische Walroßzähne ragen sie dann in die rosenfarbene Dämmerung, durch die lautlos Ozeandampfer landeinwärts gleiten.
Mit den Namen dieser Stadt hat es, ebenso wie mit ihren unzähligen Dichtern, seine besondere Bewandtnis. Der hier geborene und später exilierte Dichter Josif Brodski meint, daß sie gleichsam ein Doppelleben führt: als eine „geborene“ Sankt Petersburg und als eine „alias“ Leningrad. Die siebzigjährige Gewöhnung an den zweiten Namen und die damit verbundene sowjetische Lebensart — aber auch die grauenhafte Erfahrung der 900tägigen Blockade Leningrads durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg — haben dazu geführt, daß der Geburtsname, den sie letztes Jahr zurückerhielt, nicht mehr so recht passen will. An absurde Brechungen ist diese Stadt gewöhnt, in der sich alles und jedes im Wasser spiegelt und dabei so oft auf dem Kopf steht. Auch ihre Einwohner können mit Selbstbespiegelung umgehen. Aus der Namenszwickmühle helfen sie sich, indem sie die Stadt wie eh und je „Piter“ nennen, was so schick ausländisch klingt.
Als „Fenster nach Europa hin“ hatte Peter der Große um 1700 die neue Haupt- und Hafenstadt konzipiert. Innerhalb einer Generation wurde sie im Sumpf erbaut. Mit jenen Mitteln, die dem Zaren, der ein Zimmermann war, am nächsten lagen: Gewalt und Wasserwaage. Die schnurgeraden Prospekte, die homogene Harmonie der schlanken, klassizistischen Fassaden verfehlten nicht ihre Wirkung auf die Bewohner. Ein bißchen mehr „Haltung“, ein bißchen mehr „Höflichkeit“ und ein bißchen weniger „Weinerlichkeit“ als die Moskauer legen die Sankt Petersburger auch in den neuerlich schweren Zeiten noch an den Tag. Und das Trottoir auf dem Newskij-Prospekt ist auch in der frühjährlichen Überschwemmungs- und Schlammperiode sauber. Noch immer „riecht“ es auf dem Newskij, wie Nikolaj Gogol schrieb: „nach Bummeln“. Buch- und Kunsthandlungen und die reichhaltigen Sankt Petersburger Pfandleihen locken dezent.
S
eit anderthalb Jahren haben sich immer mehr Fassaden grellbunt und golden gefärbt und künden nun von der Präsenz ausländischer Firmen. „Dr. Oetker“ lese ich in Riesenlettern auf einem Schaufenster, ein paar Schritte weiter prangen als Auslage der alten sowjetischen Kindernahrungsfirma „Malysch“ — knallharte Spirituosen.
Ein neues Element in der altgewohnten Reihe bildet die Fassade des von einer schwedischen Firma perfekt renovierten und geführten Hotels „Evropejskaja“. Wie ein ins Riesenhafte vergrößertes Pappmacheé- Modell für eine Puccini-Oper wirkt dessen mehrere Stockwerke tiefer glasüberdachter Lichthof namens „Wintergarten“. Hier treffe ich den Juwelier Andrej Ananow, einst Schauspieler und Regisseur, der die Kunst des Überlebens hypertrophiert hat und nun die zaristische Hofjuweliers-Tradition der Familie Faberg wiederbelebt. Als einziger Bürger der ehemaligen UdSSR mit einer Ausfuhrlizenz für Gold und Brillianten verkauft er ältlichen Amerikanerinnen Neuauflagen der unsäglichen Faberg-Ostereier, die meist eine kleine Überraschung enthalten — auch wenn sie ganz und gar nicht aus Schokolade sind.
Der drahtige Sonnyboy schlürft nur Mineralwasser und erklärt mir, daß er viele Sünden auf dem Buckel habe. Angesichts der einzigartigen Lizenz glaube ich es gern. Jetzt will er sein Sündenregister durch gute Taten ausgleichen. Sieben von seinen zwanzig Angestellten sind Invaliden, und anläßlich eines Gastspiels bei Cartier hat er ihnen allen nagelneue französische Prothesen verpaßt. Ananows erfolgreichster Eleve, ein junger Afghanistan-Veteran ohne Beine, konnte kürzlich dank Prothese nach Japan reisen und einen internationalen Juwelier-Preis einheimsen. Zum Abschied erklärt mir der Meister, daß er „ein geborener Führer“ sei. Beim Verlassen des marmorglänzenden frischgebohnerten Vestibüls fällt mir auf, daß mir dies innerhalb von zwei Tagen schon drei Söhne der Stadt von sich versichert haben — ganz zu schweigen von einer ganzen Reihe von Bürgern, die sich als Hellseher und Wunderheiler erwiesen.
M
ein Blick fällt auf das Dinosaurierskelett des alten Passagen- Warenhauses „Gostinyj Dwor“, das wie der Großteil der Stadt unverdrossen staubig vor sich hinbröckelt und jeden Augenblick wieder in dem Sumpf zu verschwinden droht, aus dem es herausgestampft wurde.
„Was für ein Glück, daß wir schon so lange nicht mehr Hauptstadt sind! Wie froh müssen wir sein, daß die Gemeinde immer zu arm war, um sich Neues zu leisten und wir deshalb mit dem Alten immer weiter leben mußten“, freut sich meine Freundin Tanja: „Nur deshalb können wir heute noch Dostojewskij nachspüren und über die Hinterhöfe die Schritte abzählen, die Raskolnikow im Roman Schuld und Sühne von seinem Studentenkämmerchen zur Wohnung der alten Wucherin zurücklegte, bevor er sie erschlug.“ Ansonsten hat Tanja wenig Grund zum Jubeln. Ihren langjährigen Job bei der staatlichen Behörde zur Restaurierung der Baudenkmäler hat sie hingeworfen und inszeniert nun lieber moderne Kunstausstellungen und ausgeflippte Happenings. Daß ihre alte Tätigkeit nicht mehr bewirkte als ein Tropfen auf den heißen Stein, konnte sie nicht länger verwinden. Wir speisen zusammen fein zu Mittag, im „Haus der Architekten“ in der Herzen-Straße (bald wieder: Bolschaja Morskaja) — für eine in meinen Augen rührend niedrige Rubelsumme, die Tanja unerreichbar hoch erscheint. Genau wie dieses Gebäude werden unzählige Stadtpalais von Verbänden und Ämtern genutzt. Der Finanzwert des dekorativen Beiwerks dieser Häuser wurde nie geschätzt. Er kann bei einem einzigen Anwesen Millionen betragen.
Die Gesetzgebung habe die finanziellen Voraussetzungen für die Erhaltung dieser Denkmäler außer acht gelassen, klagt Tanja: „Den praktischen Bedürfnissen der heutigen Mieter kommt deren Zuschnitt natürlich nicht gerade entgegen, und andererseits sind die Visagen der Bürokraten hinter ihren Schreibtischen ihrer Umgebung meistens auch nicht angepaßt. Da kommt es ohne weiteres vor, daß jemand durch ein italienisches Mosaik oder eine alte holländische Kachelwand seine Telexleitung oder Rohrpost schlagen läßt. Doch dann gibt es auch die andere Seite: daß überhaupt noch so viel steht und noch dazu in einem relativ guten Zustand, das ist der unentgeltlichen Fürsorge unzähliger Bürger zu verdanken. Es kann zum Beispiel passieren, daß Du in irgendsoeine ,Kommunalnaja Kwartira‘ kommst, eine Etage in irgendeinem Stadtpalais, die sich notgedrungen x Parteien teilen müssen, und in der man die Säle durch Bretterverschläge in viele kleine Zimmerchen aufgeteilt hat. Und dort hat dann irgend so ein Großmütterchen in seinem Verschlag ein wunderbares Stück Stuckdecke, ein einzigartiges Intarsien-Paneel oder einen italienischen Barock- Lüster abbekommen. Und obwohl es kaum mehr laufen kann, kraucht das Frauchen täglich mit einem Pinselchen herum, um diese Teile zu reinigen, zu pflegen und zu erhalten.“
D
ie Staatsinspektion, die sich bisher mit den Restaurationsarbeiten befaßte, habe diese mit einem „wissenschaftlichen“ Anspruch betrieben, versichert Tanja: „Es ging den alten Restaurateursdynastien nicht darum, fix einen hübschen Hintergrund für irgendeine Boutique oder ein Reisebüro herbeizuzaubern.“ Jetzt, fürchtet die aparte schwarzhaarige Frau, begänne für die Architekturdenkmäler ein zweites schweres Leben: ein Boom ihrer kommerziellen Nutzung im Zeichen des „schnellen Geldes“. „Bald wird keiner mehr monatelang in Archiven graben, um einer bestimmten Fenstereinfassung ihr ursprüngliches Gesicht zurückzugeben“, prognostiziert sie. „Und die einzigartigen Baudenkmäler unserer Stadt werden ihre Authentizität verlieren. Heute können Besucher St. Petersburg noch ursprünglich erleben — trotz oder gerade wegen seiner Verwahrlosung und leichten Schäbigkeit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen