: „Labour wählen? Ihr werdet es bereuen“
Der Wahlkampf im Nordosten Englands ist eher lustlos/ Seit dem Niedergang der traditionellen Industrien herrscht die Arbeitslosigkeit/ Labour beklagt Mangel an politischem Bewußtsein/ An den Wänden dominieren die Tory-Poster ■ Aus Newcastle Ralf Sotscheck
Die Armstrong Road in Scotswood ist um Mitternacht wie ausgestorben. Lediglich vor einer Imbißbude stehen ein paar Jugendliche und lassen einen alten LKW-Reifen die abschüssige Straße hinunterrollen. Der Bäckerladen in einem heruntergekommenen Gebäude ist durch ein Metallgitter gesichert. „Morgens stehen die Leute hier Schlange“, erzählt Jackie Apperley. „Der Bäcker verkauft nämlich Brot und Kuchen vom Vortag zum halben Preis.“
Scotswood ist das mit Abstand ärmste Viertel Newcastles im Nordosten Englands. Nur 20 Prozent der Bewohner haben eine feste Arbeit. Die Rüstungsfirma Vickers, früher der größte Arbeitgeber der Gegend, hat seit Mitte der siebziger Jahre weite Teile der Fabrik geschlossen. Vor dem Westtor der Firma steht auf einem Podest ein Panzer, der nachts hell angestrahlt wird — ein Symbol für die Zerstörung des Viertels, das an Sarkasmus kaum zu überbieten ist. Die Bewohner anderer Stadtteile meiden Scotswood, Einbrüche sind hier an der Tagesordnung: Ein Viertel aller Häuser wurde im vergangenen Jahr ausgeraubt.
Jackie Apperley hat bis vor kurzem in Scotswood als Schuldenberaterin gearbeitet. „Viele Leute halten sich Schäferhunde, die das Haus bewachen sollen, wenn sie mal einkaufen gehen“, sagt sie. „Andere sind gar nicht erst zu uns ins Gemeindezentrum gekommen, weil sie Angst vor Einbrüchen hatten. Wir mußten deshalb oft Hausbesuche machen.“ Am Ende Scotswoods liegt die Kneipe „Dodds Arms“, die während der Revolten im vergangenen Herbst niedergebrannt wurde. Die „Riots“, die auch in anderen Arbeitslosen- Ghettos wie Meadow Well ausbrachen, sorgten damals zwar kurzfristig für Schlagzeilen, geändert haben sie jedoch nichts.
Wenn man von Scotswood ins Tyne-Tal hinunterblickt, sieht man auf der anderen Seite des Flusses das Metro-Centre von Gateshead, Europas größtes Einkaufszentrum — ein Konsumtempel der Superlative: Parkplätze für 12.000 Autos, über 350 Läden, mehr als 50 Restaurants, zehn Kinos, Bowlingbahnen und ein Rummel für die Kleinen. Das Metro- Centre, das auf dem Grundstück eines ehemaligen Stahlwerks errichtet wurde, verfügt über einen eigenen Bus- und Eisenbahnhof. Selbst aus London kommen Besucher in Charterbussen, doch von Scotswood gibt es keine Verbindung. Wer ins Einkaufsparadies will, muß erst in die Innenstadt fahren und von dort einen Bus nehmen. „Was sollen wir auch da“, fragt einer der Langzeit-Arbeitslosen. „Nach der Eröffnung war ich mit meiner Familie einmal dort. Es war traurig, die Kinder konnten nicht mal Karussell fahren, weil wir kein Geld dafür hatten.“
Kein Wunder, daß das Metro Centre beliebtes Angriffsziel der „Ram Raiders“ ist. Das sind Banden von Jugendlichen, die nachts mit gestohlenen Autos durch die Schaufensterscheiben fahren und die Läden ausplündern. Im Gegensatz zu den „Joyriders“, die in geklauten Autos ohne Rücksicht auf Passanten in den Vierteln herumrasen, sind sie sehr beliebt. „Das ist kein Wunder“, sagt der Sozialwissenschaftler Tony Jeffs von der Polytechnischen Hochschule Newcastle. „Die Ram Raiders berauben auch Geschäfte für Babykleidung, Unterwäsche und Lebensmittel. Die Waren verkaufen sie dann zu einem Spottpreis in den Ghettos. Viele könnten sich diese Sachen des täglichen Bedarfs sonst kaum leisten.“ Ram Raider und Joyrider sind völlig unterschiedliche Gruppen, Überschneidungen gibt es nicht. Die Polizei hat inzwischen einen Hubschrauber zur Bekämpfung der Ram Raiders angeschafft — mit wenig Erfolg. „Es hat sich nichts geändert“, sagt Tony Jeffs. „Allerdings berichten die Zeitungen nicht mehr darüber, weil es dem Image der Region schaden würde.“
Die Schnellstraße, an der das Metro Centre liegt, führt von Newcastle in südöstlicher Richtung nach Sunderland. Rechts an der Straße liegen Kohlebergwerke, die längst geschlossen sind, sowie die ehemals modernste Schiffswerft der Welt, die ebenfalls dichtgemacht wurde. Noch vor hundert Jahren produzierten die Werften der Grafschaft Tyne and Wear ein Viertel aller Schiffe weltweit. Heute ist nur noch die hochtechnologische Kriegsschiffwerft Swan Hunter übrig. Vor einer halben Generation war ein Drittel aller Arbeitskräfte Nordostenglands in der Schiffbauindustrie, im Bergbau oder in der Stahlindustrie beschäftigt. Diese Zahl ist inzwischen auf drei Prozent gesunken.
Für die traditionellen Industrien ist es wohl zu spät. „Diese Industriebereiche können ohne staatliche Intervention nicht überleben“, sagt Dennis McDonald, der Wahlkampfleiter der Labour Party in Sunderland. „Die Marktkräfte funktionieren da nicht. Wir müssen die letzten Kohlengruben subventionieren, um sie vor der Schließung zu bewahren. Die Regierung hat dagegen lediglich Jobs im Dienstleistungsbereich in Südostengland geschaffen.“ Die Labour Party will auch verschiedene Werften wieder aktivieren. Viele vermuten, daß die Torys die Werften in Sunderland zugunsten der nordirischen Konkurrenz von Harland and Wolff geopfert haben, da es politisch nicht opportun gewesen wäre, die Werft im protestantischen Ost-Belfast, in der auch die „Titanic“ gebaut wurde, zu schließen.
Trotz der drückenden Probleme ist der Wahlkampf eher lustlos, da die Verhältnisse von vornherein klar sind. Der Nordosten ist fest in Labour-Hand, nur vier Mandate sind umkämpft. Doch an den Plakatwänden dominieren die Tory-Poster, weil die Partei dank der Spenden aus der Industrie finanzkräftiger ist. Die bevorstehenden Wahlen sind allerdings kaum ein Gesprächsthema. Auch an den Universitäten nicht. Bei der „Debatte“ über Umweltpolitik an der Sunderland University Anfang der Woche sind nur wenige StudentInnen anwesend. Je ein Kandidat der Torys, Liberalen Demokraten, Grünen und der Labour Party stellt in fünf Minuten das Wahlprogramm seiner Partei vor. Die StudentInnen applaudieren höflich und stellen drei oder vier allgemeine Fragen. Als der Tory-Kandidat nach dem Braunkohle-Tagebau gefragt wird, der in Sunderland sehr umstritten ist, muß er zugeben, daß er davon noch nie gehört habe. Doch selbst das nehmen die StudentInnen gelassen hin. Bei der abschließenden Frage des Veranstaltungsleiters, wer aufgrund der Debatte seine Wahlabsichten geändert habe, meldet sich niemand.
Brian, ein Student der Soziologie, sagt danach: „Weitere fünf Jahre Tory-Herrschaft sind eine erschreckende Vorstellung. Hier im Nordosten herrscht zwar Wut, aber es fehlt einfach an Selbstvertrauen. Niemand glaubt daran, daß man etwas ändern kann.“ Sein Kommilitone Kevin warnt jedoch: „Die Wut kann auch nach rechts ausschlagen. Jede gut organisierte Nazi-Partei hätte hier leichtes Spiel.“ Brian hofft zwar, daß die Labour Party die Wahlen gewinnen wird, aber er ist skeptisch, was die Verbesserung der Situation in der Region betrifft: „Vielleicht gibt das wenigstens moralischen Auftrieb. Möglicherweise setzt sich dann ja die Erkenntnis durch, daß man doch etwas erreichen kann. Eins steht fest: Am 10. April besaufe ich mich — so oder so.“ Dennis McDonald sagt, das politische Bewußtsein in Großbritannien sei im Vergleich zu Frankreich oder Deutschland unterentwickelt: „Das ist sehr traurig, aber es war nicht immer so: Bis zu den Wahlen 1964 wurde der Wahlkampf vor allem mit Hilfe von Massenveranstaltungen und öffentlichen Debatten geführt. Heute ist das Fernsehen das wichtigste Mittel.“ Doch auch das stößt kaum noch auf Interesse. Aufgrund der ständigen Berichterstattung über den langweiligen Wahlkampf zwischen drei Parteien, die sich in ihren politischen Programmen immer weniger unterscheiden, sind die Besucherzahlen in den Kinos sprunghaft angestiegen.
Der etwa 75jährige Kriegsveteran im Stadtteil Fulwell läßt sich dadurch jedoch nicht beirren. Zwischen einen Blumentopf auf der Fensterbank und das Wohnzimmerfenster hat er ein handgemaltes Schild geklemmt, das allem Anschein nach schon viele Wahlkämpfe erlebt hat: „Labour wählen? Dann wirst du die Kosten bereuen.“ Daneben klebt das Wahlplakat der Torys. Der Veteran in grünem Armee-Overall und Baskenmütze kehrt gerade vom Einkaufen zurück. „Ich erinnere mich an drei Labour-Regierungen“, sagt er. „Ihr werdet es bereuen — mehr sage ich dazu nicht.
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