Gesprochener Spuk

■ »Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos« Eine Radikalkomödie von Werner Schwab im Berliner Ensemble

Ein großes Hirn schmückt den jungfräulichen Brechtvorhang aus zarter Gaze. Man versucht, aus den Eigeweiden zu lesen, denn der Hauptteil des zentralen Nervensystems (oder ist es doch eine Leber?) ist gefüllt mit Schwabschem Text. Da steht es schwarz auf weiß und zur epischen Hervorhebung auch noch einmal rot unterstrichen, was der Künstler sich Erstaunliches denkt: »Wer nicht sucht, muß wenigstens umbringen...« Hier endet der Rotstift. Der Rest des Satzes bleibt diskret unterdrückt, im Text endet er wie folgt: »... um nicht lächerlicherweise doch noch zu finden.« Der Autor ist allem Anschein zum Trotz Romantiker. Seine monströsen Figuren sind häßlich aus Protest. Sie sind krank, weil die Welt es ist, und hoffen, für sich und die Welt, auf baldige Besserung. Jede hat eine Sehnsucht, der nur die Worte fehlen, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. »Geistige Menschen« liegt eben zu nah an »Garstige Menschen«. Schwabs Menschen sind immer beides. Für die Inszenierung gilt das nicht. Werner Schwab am Berliner Ensemble, das ist das einmalige Experiment einer halbseitigen Organtransplantation. Egal, ob Hirn oder Leber, aus dem Kopf des Dichters hat man sich einseitig bedient. Das Ergebnis der Operation ist eine Bühne voll von Acephalen und ein sich glücklich gesund denkendes Publikum, das sich dafür bedankte, endlich wieder den beliebten Typus des brav-biederen Bürgerschrecks in seinen Reihen begrüßen zu dürfen. Die Kleinbürgerparodie hat am Haus Tradition.

Vor preußisch schwarz-weißem Hintergrund sitzt der junge Maler Hermann Wurm an einem Tisch und taucht den Pinsel in die bunten Farben. Hochkonzentriert entwirft er mit heraushängender Zunge und glühendem Kopf, über sein Bild gebeugt, ein Stück »Grazkunst«: Das ist eine ganz spezielle Kunstsorte »aus dem gefühlvollen Grazmenschen«, lustig und farbenfroh, auch fürs Kinderzimmer gedacht. Doch drohend steht neben ihm eine turmartig ausgebaute dunkle Kredenz, aus der die Mutter wie die böse Hexe aus dem Knusperhäuschen tritt.

Bucklig und mit Hakennase, schlägt sie dem schwärmerischen Hermann, der ein Krüppel ist, mit einem Putzlappen die Träume aus dem Kopf. Fatale Folge ist, so legt es jedenfalls das Ende des Stückes nahe, daß sich Hermanns kindische Mordgelüste der Mutter gegenüber zu der ausgewachsenen Phantasie einer »Volksvernichtung« erweitern. Komplizin und Vollenderin seiner Rachegedanken ist die Professorenwitwe Grollfeuer. Die alte Dame hat ein Problem mit dem Menschen allgemein und ganz speziell mit dem Alkohol, beides möchte sie endlich gelöst wissen. Deswegen wird die ganze Hausgemeinschaft zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen, ein Fest, das mit einer Volksvergiftung endet. Frau Wurm, Familie Kovacic und Hermann selber sterben — und stehen wieder auf. Schließlich hat Hermann sich diesen schwarzen Sonntag ja nur ausgedacht, oder auch nicht.

Die Volksvernichtung schwebt mit ihrem doppelten Schluß zwischen makaberem Volksstück und Traumspiel. Die Figuren sind halb geträumt und halb real. Die Inszenierung von Herbert Olschok verkaspert sie; besonders die Familie Kovacic, in deren spießiger »Wohnzimmerlandschaft« der zweite Akt spielt, muß zur beliebten und bekannten Kleinbürgerschelte herhalten. Da knickt Frau Kovacic, eine rundliche Platinblondine, deren üppige Auslagerung an Po und Busen die Figur in wackligem Gleichgewicht hält, regelmäßig in ihren hochhackigen Schuhen auf dem Gang von Sitzecke zu Hausbar um. Ihre Töchter, mit ähnlich starker Ausprägung der sekundären Geschlechtsmerkmale geschlagen, kriegen vor Dummheit und Geilheit den Mund nicht mehr zu, und Herrn Kovacic machen Desiree und Bianca besonders wegen ihrer hautengen Trikotkleidung zu schaffen. Das Grabschen und Tatschen ist ihm aber Kraft seiner väterlichen Autorität erlaubt. Wenn seine Hand unter den Rock der Ältesten faßt, bleibt das ohne Folgen, nur wenn er den Haushamster zärtlich umfaßt, spritzt das Blut. Dabei ist Kovacic gar kein starker Mann. Darüber, daß er der Kleinste unter seinen aufgedonnerten Frauen ist, täuscht auch sein hochtoupiertes Toupet nicht hinweg. Das taillierte Sonntagssakko, kombiniert mit dem fortwährend in weinerlichem Tonfall vorgetragenen Episoden aus dem Leben eines angestellten Untertans machen ihn letztendlich zur Witzfigur.

In dieser Überzeichnung bleibt das Schwabsche Gruselkabinett der Wirklichkeit so entrückt, daß der alltagsfaschistische Sprachgebrauch der Gestalten weder den Faschismus noch den Alltag berührt, sondern mit Kraftausdrücken wie »Übermensch«, »Untermensch« und »Unkraut« nur kokettiert. Das Publikum hält kurz den Atem an und schlägt sich danach um so fester auf die Schenkel. Schwabs verstiegen delirante Wortwahngebilde greifen in expressionistischer Manier das tabuisierte Vokabular des Nationalsozialismus wie eine grelle Farbe auf, mischen es mit der Sprache der Ämter und Behörden, und heraus kommt eine staatliche Begrifflichkeit, die das Menschen-»Material« zu einem sich selbst verwaltenden Fremdkörper macht. Dieser »gesprochene Spuk« bleibt im BE ein gewollter Spaß. Simone Schneider