Im Autosalon durch den Acheron

■ Michael Hanekes Film »Der siebente Kontinent« in der Brotfabrik, Weißensee

Ein Tag wie jeder andere, wie er allmorgendlich noch über jede mittelständische Kleinfamilie hereinbricht: Eine charmante Gattin, die sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht; ein jungdynamischer Geschäftsmann, der den Aktenkoffer akkurat in Dienst nimmt; ein wohlgeratenes Töchterchen, das vor dem Schulgang die Zierfische versorgt. Sie sitzen am wie immer makellos bereiteten Frühstückstisch in perfekter Beziehungslosigkeit beeinander. So kann man sich bis an das Ende aller Tage in schönster Harmonie ums Leben bringen.

Anna, Georg und Eva dagegen — auf den ersten Blick eine jener funktionstüchtigen Familien — halten den täglichen Trott nicht durch und ziehen die letzte Konsequenz. Irgendwann ist einfach Schluß mit der ewigen Augenauswischerei: Eva behauptet auf einmal, nichts mehr sehen zu können, und Annas Bruder wird am gleichen Tage plötzlich schwarz vor Augen. Von da an verbleiben nur noch ganze zwei Jahre, um endgültig alles hinzuschmeißen. Karriere, Firma, Schule — ein für allemal aus und vorbei. In kalter Wut wird das domestizierte Glück kurz und klein gehauen. Entschlossen scheidet man aus der schönen neuen Warenwelt.

Der moderne Mensch durchquert den Acheron im todschicken Autosalon. Wie in Charons Nachen taucht das unglückselige Trio zu Beginn in einen monströsen Autowaschkanal, an dessen Ende ein Plakat für den siebten Kontinent wirbt. Eine Ahnung, die die drei Todeskandidaten bis in ihre Träume hinein verfolgen wird. Als sie eben jenen Waschtrakt ein Jahr darauf ein letztes Mal durchqueren, ist die Ausfahrt zur neuzeitlichen Pforte des Hades geworden, kennt der Lebenslauf durch die glänzende Schattenwelt der Moderne kein Return.

Michael Haneke rollt die Tragödie einer Durchschnittsfamilie — die sich vor einigen Jahren in der österreichischen Provinz zugetragen haben soll — in kaum merklichen Erschütterungen und leisen Vibrationen auf. Wie gestundete Lebenszeit beherrschen zwischen morgendlichem Wecksignal und bangem Gute- Nacht-Gebet alle möglichen Zählwerke (in Makroaufnahme) das Alltagsbild. Wiederholt bricht der eisige Erzählfluß ab, versinken die Sequenzen abrupt in Grabesdunkel. Wie so vieles an Haneke um Kunstfertigkeit bemühtem klaustrophobischem Kammerspiel wirkt das rasch enervierend, zumal die vordergründige Metaphorik gegen Ende immer üppiger ins Kraut schießt.

Die eigentliche Message des Films hält der Abspann bereit: Trotz eines eindeutigen Abschiedsbriefes mochten die Angehörigen nicht an einen kollektiven Freitod der Musterfamilie glauben. Sie erstatteten Anzeige gegen »Unbekannt«. Roland Rust

Der siebente Kontinent , Drehbuch und Regie: Michael Haneke, Kamera: Toni Peschke. Mit Birgit Doll, Dieter Berner, Leni Tanzer, Udo Samel, Österreich 1989. In deutscher Erstaufführung ab 9.4. in der Brotfabrik, Weißensee.