: Vom Nachttisch geräumt: Kritik
Einer der bedeutendsten Literaturgelehrten dieses Jahrhunderts war ganz sicher Ernst Robert Curtius. Neben seinen großen Arbeiten, die Epoche gemacht haben — zum Beispiel Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter — schrieb er auch Glossen für Tageszeitungen. 1951 für 'Die Tat‘ in Zürich. Die erschienen dann als Bücher-Tagebuch in Buchform. Man findet es immer wieder mal in Antiquariaten als Dalp-Taschenbuch. Wer es sieht, sollte sofort danach greifen. Mit so beiläufiger Selbstverständlichkeit hat seitdem niemand mehr Glossen zur Literatur und zum literarischen Leben geschrieben. Eine Zeitung, die wieder Raum für diese Art glossierender Kommentare zur Verfügung stellte — vorausgesetzt, es gelänge ihr, einen Autor zu finden, der auch nur ein Fünftel so gut wäre wie Curtius — würde die literarische Landschaft der Bundesrepublik verändern. Curtius entwirft keine großen Theorien. Er berichtet von seinen Streifzügen durch die europäischen Literaturen, von Begegnungen mit Autoren, von Konferenzen. Er schreibt über das gerade erschienene Imaginäre Museum Malraux' ebenso selbstverständlich wie über eine Textstelle im Alten Testament, über einen Fragebogen in der neusten Ausgabe von 'Time‘ mit dem gleichen Ernst wie über Goethes Verhältnis zu Kant. Das Älteste wird unter seinen Fingern jung, und beim Neuesten beginnt man zu ahnen, wie es schmecken wird, wenn der Lack erst einmal ab sein wird.
Natürlich schützen auch die entfaltetsten Fähigkeiten und Kenntnisse nicht vor unfreiwilliger Komik. In einer seiner Glossen tritt Curtius dafür ein, daß einmal ein Kritiker sich die Arbeit mache und die deutsche Literatur der ersten Hälfte des Jahrhunderts kritisch sichte. Inventur. Was bleibt von den Größen der Jahre 1900 bis 1950? Er verweist auf J. Isaacs, der in seinem Buch An Assessment of Twentieth-Century Literature die Aufgabe schon einmmal angepackt hat, sich aber im wesentlichen auf die englische Literatur beschränkt und darum für die deutschen Leser so interessant nicht ist. Curtius ist einigermaßen verwundert über die Auswahl: „Döblin, Kafka, Hermann Hesse und der mir unbekannte Österreicher Elias Canetti, dessen Auto da Fè, 1935, ein Meisterwerk sein soll“.
Eine tröstliche Stelle. Wenn Curtius so blind sein konnte, was müssen wir dann unseren heutigen Kritikern alles durchgehen lassen?
Ernst Robert Curtius: Bücher-Tagebuch. Dalp-Taschenbücher, Francke Verlag, 1960.
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