Es gibt keinen Common- sense

Der Norden redet von „Überbevölkerung“. Also muß man die im Süden, die „Unterentwickelten“, gerade auch im Namen der Zukunft des Planeten zu ihrem Glück zwingen: dem der Kleinfamilie  ■ VON SHALINI RANDERIA

Zur Zeit wirbt das Textilunternehmen „Esprit“ mit Plakaten, auf denen ein junger Mann sein Glaubensbekenntnis darlegt: „Ohne die Überbevölkerung könnten die Menschen mit der Natur in Harmonie leben.“ Angesichts der wachsenden Umweltzerstörung scheint diese Position plausibel. Dahinter steht die Vorstellung von einem Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und natürlichen Ressourcen, das gestört wurde, weil das Bevölkerungswachstum außer Kontrolle geraten ist. Was die Harmonie stört, ist der Mensch, oder vielmehr seine Maßlosigkeit. Indem das Problem als Frage der „Überbevölkerung“ gestellt wird, ist bereits klar, wo der Hebel angesetzt werden soll: nicht bei der Einschränkung des Konsums im Norden, sondern bei der Kinderzahl der Menschen im Süden. Die Frage der Verteilung und des Zugangs zu den Ressourcen — und letztlich die Machtfrage — bleibt völlig außen vor. Der Zugriff der Industrieländer auf die Ressourcen des Südens wird nicht thematisiert.

Den Ländern des Nordens stehen zur Erhaltung und zur Steigerung des Lebensstandards ihrer Bevölkerung Agrarprodukte und Industrierohstoffe der ganzen Erde zur Verfügung. Dagegen wird von den Entwicklungsländern verlangt, daß sie ihre Bevölkerung ausschließlich aus den eigenen nationalen Ressourcen versorgen — andernfalls gelten sie als hoffnungslos überbevölkert.

Jahrhundertelang haben sich die Europäer die Freiheit herausgenommen, auf interne Probleme und Konflikte solcherart zu reagieren, indem sie in andere Erdteile migrierten. Ihnen stand dafür die ganze Welt offen — obwohl nicht nur ein paar AbenteurerInnen, sondern Millionen Menschen Europa verließen. Dasselbe Phänomen in umgekehrter Richtung gilt jetzt als Bedrohung des Friedens und als Gefahr: Der Kontinent wird zur Festung ausgebaut und rüstet sich zur Abwehr der ImmigrantInnen.

Die Klage über die „Überbevölkerung“ beinhaltet den Ruf nach Geburtenkontrolle in den Ländern des Südens. Das Ideal der Zweikinder- Kleinfamilie, das auch in Europa kaum länger als fünfzig Jahre existiert, soll in die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas exportiert werden — in Kulturen also, in denen die Menschen meist ein völlig anderes Verhältnis zu Kindern und familiärem Zusammenleben haben. Für sie ist auf ganz verschiedene Art und Weise die Frage, wieviele Kinder sie haben, keine bevölkerungspolitische Entscheidung, sondern eingebettet in ihre jeweiligen kulturellen Vorstellungen über Geschlechterbeziehungen, über das Zusammenleben von Generationen, über Sexualität und Körperlichkeit. In den meisten nichteuropäischen Gesellschaften ist der Körper kein Ort der Planung und Messung und des staatlichen Eingriffs. In Indien zum Beispiel ist es außer bei der Armee völlig unüblich, die Körpergröße von Menschen zu messen. Ich selbst bin zum ersten Mal in Deutschland an die Meßlatte gestellt worden. Bei den Kikuyu, einer großen Ethnie in Kenia, existiert traditionell die Vorstellung, daß es Unglück bringe, Menschen und Tiere zu zählen.

Die Vorstellungen und Werte, die dem Westen fremd sind, gelten als Quelle der Irrationalität, die die „Entwicklung“ behindert. „Entwicklung“ bedeutet: „Die Menschen in den Entwicklungsländern sollen so werden wie wir — oder fast so“; das heißt: Sie sollen der Kapitalbildung den Vorrang geben gegenüber Verwandschaftspflichten. Mechanisierung der Landwirtschaft soll die Erträge erhöhen — aber nur, um den materiellen Reichtum, nicht um die freie Zeit zu vermehren. Denn die Freizeit wird in den Ländern des Südens häufig genutzt, um Dinge zu tun, die als „nicht produktiv“ gelten: Feste feiern, Todesrituale oder Hochzeiten.

Im entwicklungspolitischen Diskurs wird angenommen, daß Menschen in bezug auf Kinder Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen. Kulturelle Einstellungen zu Kindern, Familien, Schwangerschaft und Geburt werden somit zum Bestandteil von Geburtenkontrolle und Familienplanung. Viele Kinder zu haben, ist demnach irrational, und Kinderreichtum wird als die Ursache für Armut und Unterentwicklung angesehen.

In der Gegenargumentation wird diese Kausalität umgekehrt und postuliert, daß es gerade für die Armen rational sei, viele Kinder zu haben, da sie zum Familieneinkommen und zur Altersversorgung beitragen. Beiden Vorstellungen ist die utilitaristische Denkweise gemeinsam, wonach die einzige Art rational zu sein darin besteht, Kosten und Nutzen oder auch „reale“ Vorteile zu kalkulieren.

Aber genau wie im Norden sind Kinder auch im Süden nicht nur Arbeitskraft oder Altersfürsorge und somit Ersatz für den fehlenden Sozialstaat. Sie darauf zu reduzieren bedeutet, emotionale Gründe fürs Kinderkriegen nur den Frauen in den Industrieländern als Privileg zuzugestehen, während den Frauen des Südens solche Motive abgesprochen werden. Mit dieser Doppelmoral werden zwei Ziele verfolgt: Im Norden werden Frauen mit der Ermunterung, daß Kinder mehr Freude ins Leben bringen, zum Gebären angehalten; auf der südlichen Halbkugel werden Kinder als Kostenfaktor berechnet, um so Geburtenkontrolle zu legitimieren. Dabei wird der Wunsch der Frauen im Süden nach Zugang zu Verhütungsmitteln umstandslos gleichgesetzt mit einem Bedürfnis nach Kleinfamilienplanung. Daß dies ein Trugschluß ist, zeigt schon das Scheitern der meisten Familienplanungsprogramme.

In dem indischen Dorf, in dem ich meine Feldforschung gemacht habe, wurde zum Beispiel ein Familienplanungsprogramm durchgeführt. Währenddessen bekamen mehrere Ehepaare im Dorf Kinder — obwohl sie in der Erfolgsstatistik des Familienplanungsprogramms als Benutzer von Verhütungsmitteln registriert waren. Auf meine Frage, warum sie sich als Teilnehmer am Programm gemeldet haben, ohne die Verhütungsmittel zu benutzen, antwortete ein Mann: „Wenn die Beamten glücklich sind, meinen Namen aufzuschreiben, sollen sie es ruhig tun. Wir haben ihre Tabletten angenommen, und sie haben uns Glück gewünscht. Nach unseren zwei Töchtern wollten wir gerne einen Sohn haben. Den haben wir auch bekommen; also haben ihre Wünsche geholfen. Und auch die Beamten hatten Glück: sie müssen alle befördert worden sein, denn sie sind nicht wiedergekommen.“

Bevölkerungswissenschaftler und Familienplaner aus dem Norden geraten regelmäßig in Verzweiflung über die „Unzuverlässigkeit“ der Angaben, wenn sie in anderen Teilen der Erde Umfragen und statistische Erhebungen durchführen wollen. Aus ihrer Sicht sind Menschen, die nur aus Höflichkeit die Erwartungen der Fragenden bestätigen und ihre Kinder nicht nach ökonomischen Kriterien planen, ein Indiz für Entwicklungsdefizite und Irrationalität.

Der westliche Common sense gilt als das menschliche Verhalten schlechthin. Aus diesem Selbstbewußtsein ergibt sich die Berechtigung zu bevölkerungspolitischen Eingriffen im Süden quasi von selbst. Wenn auch noch die bedrohte Zukunft des Planeten ins Spiel gebracht wird, erscheint es naheliegend, daß man die „Unterentwickelten“ zu ihrem Glück zwingen muß. Im Norden können solche Denkmuster mit breiter Akzeptanz rechnen — wie im Falle des 18jährigen auf dem Werbeplakat: Die Unterscheidung zwischen Menschen und „Überbevölkerung“ ist ihm so selbstverständlich wie jeder und jedem von uns diejenige zwischen Pflanzen und Unkraut.

Die Autorin ist Ethnologin an der Freien Universität Berlin.