Japan vor der Modernisierungskrise

Die Produktionskonzepte mit „management by stress“ sind den deutschen nicht unbedingt überlegen  ■ Von Martin Kempe

Berlin (taz) — Die Zukunft beginnt neuerdings in den neuen Ländern, genauer gesagt in Eisenach und in dem kleinen Flecken Mosel bei Zwickau. In Eisenach wird Opel ab Ende dieses Jahres mit 2.000 Beschäftigten die Produktion aufnehmen. Und am alten Trabi-Produktionsort Mosel/Zwickau baut VW derzeit eine Produktionsstätte für den Polo. In beiden Werken soll die Chance des völligen Neubeginns radikal genutzt und am konsequentesten umgesetzt werden, was neuerdings als Schlagwort für zukunftsgerichtete Produktion durch Managerseminare und Medien geistert: die „lean production“, die von den Japanern entlehnte „schlanke Produktion“ (siehe taz vom 3. April). Doch kaum hat der allgemeine Wettlauf um die schlankeste Produktion eingesetzt, warnen Kritiker davor, sich von der bloßen Kopie der japanischen Konzepte den großen Sprung nach vorn zu versprechen.

Die wesentlichen Elemente des japanischen Erfolgsrezepts sehen die Arbeitswissenschaftler Professor Franz Lehner (Gelsenkirchen) und Professor Frieder Naschold (Berlin) in einer Optimierung der betrieblichen Ablaufstrukturen etwa mittels der „just in time“-Produktion, der Konzentration des gesamten Produktionsprozesses auf das Endprodukt durch Verringerung der Fertigungstiefe, dem weitgehenden Verzicht darauf, Planungs-, Entscheidungs- und Steuerungsprozesse der Produktion in einer betrieblichen Hierarchie zu monopolisieren.

Insbesondere dieser letzte Punkt, so schrieben Lehner und Naschold kürzlich im 'Handelsblatt‘, sei eine „zentrale Komponente“ der „lean production“, mit der sich europäische Manager immer noch schwertun. Denn es erfordert, „Zuständigkeiten und Verantwortung“ in die Werkstatt zu delegieren. Die Arbeiter in den Werkstätten werden zu Teams zusammengefaßt, die selbst die Verantwortung für den effizienten und reibungslosen Ablauf sowie für die Qualitätskontrolle übernehmen. Was Opel-Chef Howard Hughes kürzlich mit großem Show-Aufwand seinen Beschäftigten und der Öffentlichkeit verkaufte, die im bestimmten Rahmen selbständige, selbstverantwortliche Gruppenarbeit, ist in Japan schon längst gängige Praxis.

Die westlichen Manager, so Lehner und Naschold, hätten lange Zeit auf das Leitbild der automatisierten, menschenleeren Fabrik gesetzt, in der alle Steuerungskompetenzen zentralisiert werden mußten und einseitig auf die Technik gesetzt wurde. „Damit wurde auch ein wachsender sozialer Gegensatz zwischen Arbeit und Technik mit entsprechenden Konflikten aufgebaut, der die Automatisierung und Flexibilisierung der Produktion stark gehemmt hat.“ Andererseits widersprechen die Wissenschaftler der Auffassung, das japanische Produktionssystem sei revolutionär. Es beinhalte keineswegs eine radikale Abkehr von den traditionellen Methoden der Massenfertigung, sondern modizifiere sie nur auf eine besondere Weise, die dem sozialen Umfeld des Landes entspreche. Wo dies fehle, etwa in den Niederlassungen japanischer Konzerne in den Vereinigten Staaten und Europa, bleibe die Produktivität ebenfalls hinter der in den japanischen Fabriken zurück.

Verantwortlich dafür ist das auf andere Länder so nicht übertragbare japanspezifische „management by stress“, wie die beiden Wissenschaftler schreiben, also eine „Übernutzung der Arbeitskraft“ durch lange Arbeitszeiten, geringen Urlaub und hohen Arbeitsdruck. Diese Faktoren, die der besonderen Betriebsgemeinschaftsideologie in Japan geschuldet sind, trügen ebenfalls zum Produktivitätsvorsprung der Japaner bei.

Andererseits werden aber gerade dadurch die Grundlagen des japanischen Erfolgsmodells ausgehöhlt. Denn Industriearbeit gelte in Japan inzwischen als unattraktiv. Die notwendigen Arbeitskräfte ließen sich kaum mehr rekrutieren. Durch den Arbeitskräftemangel aber gerate die japanische Industrie zunehmend unter Automatisierungsdruck und damit in Gefahr, „von ihrem erfolgreichen Produktionskonzept und der Verbindung qualifizierter Arbeit mit moderner Technik abweichen zu müssen“.

Der CDU-Politiker Warnfried Dettling, sozial engagierter Vordenker im Stuttgarter Staatsministerium von Erwin Teufel, wird in einem Aufsatz für die DGB-Zeitschrift 'Mitbestimmung‘ (3/92) noch deutlicher: die „anti-individualistische japanische Gesellschaft“, in der alles dem wirtschaftlichen Erfolg untergeordnet werde, werde „ihre eigene Modernisierung auf Dauer (nicht) unversehrt überleben“. Das japanische Modell unterspüle „mit seinem wirtschaftlichen Erfolg die kulturellen Voraussetzungen eben dieses Erfolges“. Schon jetzt seien große Teile der japanischen Gesellschaft auf dem Weg in die Freizeitgesellschaft. Die soziale Unzufriedenheit wachse und die individuellen Ansprüche der Menschen an ihr Leben wüchsen langsam aber sicher über ihre Rolle in der Betriebsgemeinschaft hinaus.

Dettling kommt wie auch Naschold und Lehner zu dem Schluß, daß den Japanern die Krise ihres Modells eher noch bevorstehe, während die Europäer, namentlich die Deutschen, mit ihrem modernen System sozialer Konfliktregelung gute Voraussetzungen für die Zukunft mitbrächten. „Japan ist eine Mischung von Hochtechnologie (in der Wirtschaft) und Anachronismus (in der Gesellschaft). Der Standortvorteil Deutschlands besteht darin, daß es die 'stille Revolution‘ in den Köpfen und Herzen der Menschen, also die Anpassung der Arbeitswelt an veränderte Wertorientierungen und Verhaltensweisen, schon hinter sich gebracht hat.“

Der Düsseldorfer Wissenschaftler Wolfgang Lechner vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB (WSI) warnte im Gespräch mit der taz ausdrücklich davor, die Einführung von Gruppenarbeit bei Opel und in anderen Werken unkritisch zu begrüßen. Zwar könnten darin Chancen für einen stärker selbstbestimmten, auch effektiveren Arbeitseinsatz liegen, die wahrgenommen werden sollten. Andererseits werde damit vielfach versucht, die Beschäftigten mit neuen Betriebsgemeinschaftsideologien an den Arbeitgeber zu binden und eine striktere Trennung von Stamm- und Randbelegschaften durchzusetzen. Gesamtgesellschaftlich laufe dies— wie in Japan — auf verschärfte soziale Ausgrenzungsprozesse hinaus.

Lehner und Naschold haben diese Dimension in ihrem Aufsatz nicht angesprochen. Aber auch sie plädieren dafür, die Vorteile und Stärken der Sozialbeziehungen in Deutschland mit dem relativ hohen Ausbildungsstand der Beschäftigten, den kooperativen industriellen Beziehungen zwischen den Tarifparteien, den Erfahrungen mit neuen Organisations- und Managementformen zu nutzen und weiterzuentwickeln, anstatt blind japanische Konzepte zu übernehmen. „Eine konstruktive Antwort der deutschen Industrie auf die japanische Herausforderung muß das richtige Maß an Sensibilität im Umgang mit Humanressourcen finden“, schreiben sie im schönsten Manager-Kauderwelsch. Dann könnten deutsche Unternehmen schnell Produktionssysteme entwickeln, die den japanischen sogar überlegen seien.