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Ostermarsch der Watschelmänner

■ Deutsche Meisterschaften im 50-Kilometer-Straßengehen: Die Favoriten wurden ihrer Rolle gerecht/ Trotz Sturmes ästhetisch hochwertiges Hüftkreisen der nicht laufenden Ausdauersportler

Wilmersdorf. Am Ostersonntag geschehen bekanntlich wundersame Dinge, die sich die Menschen nur schwer erklären können. Einem ähnlichen Phänomen beinahe biblischen Ausmaßes sah sich gegenüber, wer seinen österlichen Ausritt an der Wilmersdorfer Fritz-Wildung-Straße absolvierte. Kein Hahn krähte; die Gräber des benachbarten Friedhofes bewegten sich nicht. Und doch war nichts wie sonst. Nicht einmal der mitgeführte Hund konnte sich so recht entscheiden, ob er nach den vielen wohlvertrauten Trainingsanzügen schnappen sollte, die da mit fürwahr außerirdischen Hüftschwüngen ihren Frühsport praktizierten. Sind das Menschen oder was? dachte sich das Stück Vieh — und ließ die Wesen mit dem verschwitzten Blick konzentrierter Introvertiertheit ungeschoren an sich vorüberziehen.

»Das sieht schon komisch aus«, meinte denn auch ein gleichsam verwirrter Passant. »Das sind Geher«, belehrte ihn seine Weggefährtin mit einem Synonym. Gehen — das ist das arschkreisende Watscheln der Leichtathletik, das ist wie ein Turbo mit angezogener Handbremse, der sich nicht zum befreiten Sprint entschließen kann, weil dies zu unkompliziert wäre.

In den Anfängen der olympischen Bewegung galt das Ausdauergehen als eine überaus populäre Disziplin. Für die Einhaltung der reinen Lehre sorgten aber Juroren, die on the road überwachten, daß auch jeder Aktive mit einem durchgestreckten Bein Bodenhaftung bewahrte. Doch nicht immer flogen diejenigen aus dem Wettbewerb, die beim Gehen rannten. Vieles im Gehersport roch bedenklich nach Eiskunstlaufen, bei dem die RichterInnen nach eigenem Gutdünken ihre Medaillen vergeben. Beispielsweise 1968 bei den Olympischen Spielen von Mexiko über die 20-Kilometer-Strecke: damals durfte ein namenloser Einheimischer dem späteren Sieger, Wladimir Golubnitschi aus der Sowjetunion, beinahe noch mittels eines ungeahndeten dirty walking den ersten Rang ablaufen.

So schoß das Gehen allmählich durch herrische Schiedsurteile erst in die dann wieder aus den Schlagzeilen. Konsequenterweise blieb leider auch der Saisonhöhepunkt der Geher, die Deutsche Meisterschaft über 50 Kilometer von Wilmersdorf, weitestgehend vom Publikumszuspruch verschont — Obwohl mit Ronald Weigel (LAC Halenseee), Hartwig Gauder (SV Erfurt) sowie Lokalmatador Volkmar Scholz (BSV 92) drei Athleten internationalen Top-Zuschnittes ihre Kräfte maßen.

Ronald Weigel, als Potsdamer für die DDR zweifacher olympischer Silbermedaillengewinner von Seoul 1988, prägte das Geschehen von Anfang an. Immer wieder wabberte sein Name über die Lautsprecheranlage ins windige Oval des Wilmersdorfer Stadions. Draußen vor den Toren, wo die Athleten ihre eigentliche Marscharbeit verrichteten, blies Gevatter Sturm den leichtgewichtigen Läufern noch unbarmherziger gegen die fettlosen Rippen.

Bei Kilometer 40 hatte der Wahl- Halenseer bereits sieben Minuten Vorsprung auf den späteren Dritten, Volkmar Scholz, so daß nur noch der um vier Minuten zurückliegende Erfurter Gauder ihn hätte gefährden können. Aber sämtliche Annäherungsversuche des Thüringers blieben erfolglos. Nach 3:51:35 Stunden — eine für diese widrigen Umstände respektable Zeit — watschelte Roland Weigel mutterseelenallein ins Stadionrund. Zwar lag der neue und alte Deutsche Meister damit ganze 13 Minuten über seiner persönlichen Bestzeit, die zugleich Rekord für den Deutschen Leichtathletik-Verband bedeutet. »Dennoch bin ich zufrieden«, meinte Weigel im Zieleinlauf, wohlwissend, daß er mit diesem österlichen Parforceritt bereits seine Fahrkarte für Barcelona gelöst hatte.

Wenige Minuten danach durfte sich auch Hartwig Gauder den Fragen wißbegieriger Journalisten stellen. Die altbekannte DDR-Herrlichkeit, aus alten Zeiten wohlbekannt, war also wieder hergestellt. Und Volkmar Scholz, neben dem Südbadener Robert Ihly langjähriges Aushängeschild der Wessi-Geher, mußte bangen, daß seine Kameraden vom BSV 92 rechtzeitig ins Ziel kamen, um ihm wenigstens den Titel eines Deutschen Mannschaftsmeisters zu bescheren. Jürgen Schulz

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