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Zeit-Bilder aus Ungarn

■ Die »Tagebuch«-Trilogie von Márta Méśzáros erstmals vollständig im Filmkunsthaus Babylon

In Ungarn lief vieles völlig anders als im übrigen Ostblock; fand doch der »Gulaschkommunist« Kádár an so mancher Freizügigkeit Geschmack, die den Hardlinern in der Moskauer Zentrale chronisch Bauchschmerzen bescherte. Wo in den anderen Satellitenstaaten sämtliche Probleme mit eisernem Besen unter den roten Teppich gekehrt wurden, signalisierte man an der Donau Eigensinn und kritisches Bewußtsein — nicht zuletzt auch gegenüber der eigenen Historie.

Eine sehr persönliche Abrechnung mit einem der dunkelsten Kapitel ungarischer Nachkriegsgeschichte, der Stalin-Ära und deren verheerenden Folgen, unternimmt die Film-Trilogie Tagebuch von Márta Méśzáros. »Es war einmal ein junges Mädchen, eine Waise, weder Ungarin noch Russin, das sich zwar gefühlsmäßig Ungarn verbunden fühlte, jedoch zuerst kyrillisch schreiben lernte. Diese Halbwüchsige sucht sich selbst, wenngleich ohne Scheu vor Selbstverleugnung. Sie kehrt zu ihrer ungeliebten Pflegemutter zurück, um durch deren Beziehungen mit einem Stipendium nach Moskau zu kommen — die einzige Chance, ihren Kindheitstraum zu verwirklichen: Filmregisseurin zu werden.« So reflektiert Ungarns bedeutendste Filmemacherin ihre widerspruchsvolle Karriere zwischen Anpassung und Auflehnung, die der Film autobiographisch nachzeichnet.

1931 in Budapest geboren, kommt sie an der Seite ihrer Eltern in die Sowjetunion, wo der Vater, ein begabter Bildhauer, kurze Zeit später ein Opfer der Stalinschen Willkür wird. Ein Trauma, das bis in ihren Dokumentarfilm Zum Gedenken an László Méśzáros (1969) fortwirkt. Nach Kriegsende kehrt sie als Waise (über das Schicksal der Mutter ist wenig bekannt) nach Budapest zurück und findet Aufnahme bei Magda, einer strammen Parteifunktionärin, die das verschüchterte Mädchen in ein kadertreues Elitegymnasium steckt. Mehr Zuneigung jedoch empfindet Juli — das Alter ego der ungarischen Filmemacherin — für János, einen früheren Kampfgefährten Magdas, der zu ihrem väterlichen Freund und Vertrauten wird.

Als János 1950 plötzlich inhaftiert wird, muß Juli ihren eigenen Weg finden. Damit endet das Tagebuch für meine Kinder (1981; erst später freigegeben), der erste Teil der insgesamt annähernd sechsstündigen Filmchronik.

Der zweite Teil, Tagebuch für meine Lieben (1987), verfolgt das weitere Geschehen im Vorfeld des ungarischen Volksaufstandes 1956. Juli sucht nun neuerlich Kontakt zu Magda, die mittlerweile für die Geheimpolizei arbeitet, vor allem um dank deren Verbindungen an die Moskauer Filmhochschule delegiert zu werden. Der Tod Stalins bringt die posthume Rehabilitierung des Vaters, und auch János kommt aus der Haft frei. Begeistert beobachtet die Filmstudentin die Wandlungen in der Heimat, um nach der Rückkehr in Moskau von den ersten Gefechten in Budapests Straßen überrascht zu werden.

Im abschließenden dritten Teil, Tagebuch für meine Eltern (1991), versucht Juli sich ein Bild von der verzweifelten Situation nach der Niederschlagung der Volkserhebung durch die Sowjets zu machen. Doch wo immer sie die Wahrheit mit der Kamera einfangen will, schlagen ihr Angst, Mißtrauen und unverhohlener Terror entgegen — bis sie am Ende selbst in Verdacht gerät. Ein Fest zur Jahreswende führt die einstigen Kampfgefährten ein letztes Mal zusammen. Vergeblich, im Morgengrauen scheidet man endgültig als unversöhnliche Kontrahenten.

Mit Julis Gang über den Totenacker einer mörderischen Diktatur, der auch János zum Opfer fiel, schließt das Tagebuch vom Erwachsenwerden in den Wirren einer aus den Fugen geratenen Zeit. Ein aufwendiges Zeit-Bild, das freilich gegen Ende zusehends zu drögem Polit-Kintopp verflacht. Die säuberliche Polarisierung der schwer durchschaubaren Fraktionskämpfe in den Figuren von Magda und János verführt unweigerlich zur vereinfachenden Alternative von Mörder und Märtyrer. »Kleines Land, großes Opfer« wird als politische Maxime zum kleinstmöglichen Nenner zeitgeschichtlichen Selbstverständnisses.

Erstaunlich indifferent bleibt das Verhältnis zur autobiographischen Heldin auf deren reichlich überstrapazierter Suche nach dem (Über-)Vater. Die in ihrer Heimat nicht unumstrittene Filmemacherin ging damals übrigens auf einige Zeit in das Dokumentarfilmstudio Bukarest, um mit dem späten Spielfilmdebüt Das Mädchen (1968) sowie Adoption (der nach dem Berlinale- Erfolg 1975 international den Durchbruch brachte) auch thematisch an Ort und Zeit ihrer bewegten Jugend zurückzukehren: Ungarn zwischen Autonomie und Autopsie. Roland Rust

Tagebuch (Napló): Filmtrilogie von Márta Méśzáros. Kamera: Nyika Jancsó. Mit Zsuzsa Czinkóczi, Anna Polony, Jan Nowicki u.a. OF mit dt./engl. UT bzw. dt. eingesprochen. Vom 22. bis 24.4. im Filmkunsthaus Babylon (Mitte). Die Filmemacherin wird zu einem Gespräch erwartet. Das Programm ergänzen die Spielfilme Das Mädchen und Adoption sowie die Kurzdokumentarfilme Wanderer der Landstraßen (1956), Zum Gedenken an László Méśzáros (1969) und In der Lörincer Spinnerei (1971). Wiederholung vom 28. bis 30.4. im Babylon, vom 13. bis 17.5. im Filmmuseum Potsdam.

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