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Die Form des Nützlichen

■ „Glas der 50er und 60er Jahre“ im Focke-Museum / Heute Ausstellungs-Eröffnung

Wie der sogenannte Geschmack, den man so fälschlich wie gern für den eigenen hält, Streiche spielen kann! Direkt aus der Zeit der Nyltest-Hemden, Schwalbennest- Frisuren und auch der Hosen mit Schlag kommen die Glasvasen, -schalen und -Tischgeräte, die das Focke-Museum ab heute in einer Sonderausstellung zeigt: „Glas der 50er und 60er Jahre“. Wer den ersten Schreck überwindet beim Anblick ausladender, bunter Woolworth-Schalen mit langgezogenen, manchmal neckisch hochgebogenen Eselsohr- Endzipfelchen, wer vielleicht das Glück hat, die zuständige Museums-Kustodin Dr. Uta Bernsmeier vitrinenführend zu erwischen, kann viel erfahren.

Wie ein wildes Meer hat die Kölner Sammlerin und Künstlerin Inge Prokot über tausend Glasgefäße gesammelt und hunderte davon wie in farbige Wogen in ihrem Haus, auch im Garten zusammengestellt, von der Sonne beleuchten, von Pflanzen überwuchern lassen. Diesen entspannten Umgang des „barocken Sammler-Temperaments“, so Bernsmeier über Prokot, greift die Sonderausstellung mit ihrer nierenförmigen Ausstellungsfläche am Boden auf: dicht an dicht zu ganzen Geländen aufgestellte Gefäße aus farbigem Glas, anonym hergestellt, oft farbig oder gar bunt, meist bizarr geformt.

In den streng angeordneten Vitrinen stehen daneben und dagegen kostbare Unikate, ausgewiesen durch die Signaturen berühmter Manufakturen: Ätzstempel oder Etiketten. Die Präsentation legt verblüffend nah, wie sich das Design aus Süd- und Nordeuropa in den 50er und 60er Jahren trotz aller Wiedererkennbarkeit unterschied: Die Italiener mit ihren Murano-Manufakturen nahe Venedig: prächtige Farben, unregelmäßige Formen, lieber dreieckig als nach dem Form-Diktat der Quadrate und Rechtecke aus den 30er und 40er Jahren. Vasen, mit bunt aufgeschmolzenen Glasstreifen, in kräftigem Rot, klarem Türkis. Ganz anders die Skandinavier: mit großem Ernst bestehen sie auf schlichtester Gebrauchskunst, auf klarsten, sparsamen Formen. International tonangebend war zuerst Schweden, abgelöst dann durch die finnischen Manufakturen, die Serienweise den begehrten Mailänder Triennale-Preis der „Form des Nützlichen“ kassierten. Skandinavien, das heißt vor allem: Kühles Grün und Blau, und erstmalig eine Design-Vorstellung, die kraftvoll geformte, aber so zurückhaltende Objekte produzierte, daß sich die Stücke mit jedem anderen Tischgerät vertrug. Dazwischen: deutsche, auch niederländische Objekte: Kräftige, dickwandige Gefäße oft, betont sachlich und klar in den Formen, sehr zurückhaltend, gegen die italienischen Stücke fast blaß in den Farben. Was der Ausstellung unaufdringlich gelingt: „Die“ 50er und 60er gibt es beim Hinausgehen gar nicht mehr, und vorschnelle Gemacksurteile auch nicht. S.P.

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