: WENN „UNREINES BLUT“ DEN HEIMATLICHEN BODEN TRÄNKT
Streit um die Marseillaise
Paris (epd) — Zur besten Sendezeit im Fernsehen erschien die elfjährige Sverin auf dem Bildschirm und sang mit kindlicher Stimme: „...hört ihr in den Feldern die blutdürstigen Soldaten brüllen? Sie kommen bis in unsere Arme, metzeln eure Söhne und eure Frauen nieder. Zu den Waffen Bürger! Bildet Bataillone, marschiert, damit das unreine Blut unsere Furchen tränkt!“
Die Szene spielte nicht in Jugoslawien oder Aserbaidschan, sondern am 8. Februar ausgerechnet bei der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Albertville. Der blutrünstige Text gehört zur ersten Strophe der Marseillaise, der französischen Nationalhymne. Die kleine Sverin schockierte mit ihrem Auftritt nachhaltig das internationale Publikum und eine große Zahl Franzosen.
Bereits 1989, zum 200. Jahrestag des Sturmes auf die Bastille, hatte Abbé Pierre einen Appell für eine weniger blutige „Marseillaise der Brüderlichkeit“ gestartet. Der in Frankreich wegen seines Engagements für Arme und Obdachlose bekannte und beliebte Priester wollte vor allem zwei Stellen im Text der Nationalhymne ändern. Von den europäischen Nachbarn ist dort die Rede als „blutdürstigen Soldaten“, „grausamen Despoten“ und „Tigern ohne Gnade“. Angesichts der Demokratisierung Europas und der Annäherung der Völker erschien ihm das kriegerische Gehabe als nicht mehr zeitgemäß.
Die „blutdürstigen Soldaten“ waren die des Königs von Preußen und der österreichischen Monarchie. Das Verhältnis unter den ehemaligen Erzfeinden hat sich seitdem gründlich gewandelt. Den Verzicht der Deutschen auf die erste Strophe des Deutschlandliedes versteht Abbé Pierre daher als Ansporn für die Franzosen, auch ihre Hymne endlich friedlicher zu gestalten. Ausgerechnet die Republik der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dürfe nicht auf Worten des „Hasses und der Rache“ beharren, sagt der Priester.
Die Befürworter einer „Marseillaise der Brüderlichkeit“ haben aber noch ein weiteres gewichtiges Argument für eine Änderung des Textes: Die französische Gesellschaft sei inzwischen von wachsendem Rassismus geprägt. Die Rede vom „unreinen Blut“ im Refrain der Marseillaise bekomme da einen neuen, gefährlichen Ton. Jean-Marie Le Pen, der Führer der französischen Rechtsradikalen, schlägt bereits diese Tonart an. Und in einem Prozeß um den Überfall auf einen Araber in Bordeaux führte der Verteidiger kürzlich den Text der Hymne an, da „selbst dort“ die Rede vom „unreinen Blut“ sei, das den französischen Boden tränken soll.
Zahlreiche prominente Franzosen unterstützen inzwischen den Aufruf für eine „Marseillaise der Brüderlichkeit“. Die Diskussion blieb bisher dennoch eher akademisch. Umfragen zeigten, daß eine überwältigende Mehrheit der Franzosen hartnäckig gegen jede Änderung der Hymne ist. Die Befürworter einer „Marseillaise der Brüderlichkeit“ beschränken sich deshalb derzeit darauf, eine gewissermaßen jugendfreie Hymne zu fordern, die bei Sportveranstaltungen, Jugendfeiern und internationalen Treffen gesungen werden kann, ohne Anstoß zu erregen. Der neue Text soll in einem Wettbewerb gefunden werden, den die Bewegung für eine neue Marseillaise ausschreiben wird.
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