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Alter und Freiheit

An die Stelle des vielkritisierten Entmündigungs- und Pflegschaftsrechts ist seit Anfang des Jahres das „Betreuungsgesetz“ getreten, das rund 250.000 psychisch Kranke und Alte vor Rechtsbeschneidung schützen soll.  ■ VON CORNELIA NACK

Durch eine schwere Gehirnerkrankung im Sommer 1989 hatte Ingeborg P. ihr Kurzzeitgedächtnis verloren, bereits wenige Stunden zurückliegende Ereignisse vergißt sie seither. Die alleinstehende und wohlhabende Seniorin wurde unter Pflegschaft gestellt und ein guter Bekannter aus der Nachbarschaft zum Pfleger eingesetzt, der künftig über ihr Vermögen und ihren Aufenthaltsort zu bestimmen hatte. Die 71jährige zog in ein komfortables Seniorenheim bei Hamburg.

Dort tauchten alsbald Zweifel an der Zuverlässigkeit des Pflegers auf. Mit Hilfe der Heimleitung schaltete Ingeborg P. einen Anwalt ein, der ihre Vermögenslage überprüfen sollte. Er fand heraus, daß das erste, zur gerichtlichen Kontrolle des Pflegers besonders wichtige Vermögensverzeichnis krasse Lücken enthielt: Wertgegenstände und Schmuck waren vom Pfleger nicht aufgeführt, ihr Haus zu unüblich günstigen Konditionen an seine Tochter vermietet worden.

Beharrlich weigerte sich der Pfleger, die Ungereimtheiten aufzuklären. Um seine Schutzbefohlene dem Einfluß von Heimleitung und Anwalt zu entziehen, machte er schließlich von seinem Aufenthaltsbestimmungsrecht massiven Gebrauch: Unter dem Vorwand eines Spaziergangs holte er Ingeborg P. am 12. September vorletzten Jahres ab und brachte sie in einem abgelegenen holsteinischen Altenheim unter.

Der exemplarische Fall der Ingeborg P.

Das neue Domizil von Ingeborg P. hat seit langem Mühe, aus den Schlagzeilen der Lokalpresse herauszubleiben. Ins Zwielicht geriet das Heim durch mehrere Gerichtsverfahren gegen die Betreiberin wegen Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung, Diebstahl, Betrug und Unterschlagung. Weil letzte Beweise fehlten, stellte das Amtsgericht Trittau die Verfahren jedoch gegen eine Geldbuße von 1.500 Mark ein. Eine glückliche Lösung des Falles schien in Sicht, nachdem Ingeborg P.s Anwalt die Amtsenthebung ihres Pflegers durchsetzte. Als neuer Pfleger wurde ein Ahrensburger Rechtsanwalt eingesetzt. Entgegen Ingeborg P.s ausdrücklichem Wunsch, in ihr altes Seniorenheim zurückzukehren, unternahm der neue Pfleger jedoch nichts, um an der Lage der alten Frau etwas zu ändern.

Der Anwalt von Ingeborg P. hat sich bislang vergebens bemüht, seiner Mandantin Klarheit über ihr Vermögen zu beschaffen. Einblick in die Akten wird ihm verwehrt, bis gerichtlich festgestellt ist, ob Ingeborg P. überhaupt einen Rechtsvertreter beauftragen kann. Ebensowenig ist es ihm im Laufe von nunmehr fast eineinhalb Jahren gelungen, Ingeborg P. aus der Isolation ihrer Zwangsunterkunft herauszuholen. Der Wille des Vormunds und Pflegers ist bestimmend.

Der Fall Ingeborg P. ist nur ein Beispiel für die weit über das Ziel hinausschießende Entrechtung durch das bis Ende 1991 gültige Entmündigungs- und Pflegschaftsgesetz. Das Schicksal von rund 250.000 Erwachsenen vollzog sich bis zum Jahreswechsel nach Paragraphen aus Kaisers Zeiten. Sie wurden entmündigt oder — wie rund 185.000 vornehmlich alte Menschen — unter Pflegschaft gestellt, weil sie psychisch krank, süchtig, gebrechlich, verwirrt — oder allzu verschwenderisch waren.

„Schlimme Mißstände“ und eine „alltägliche und massenhafte Verletzung der Selbstbestimmungsrechte“ insbesondere alter Menschen konstatierten denn auch die Teilnehmer des 1. Vormundschaftsgerichtstages 1988 in Bad Bevensen, eines Forums aller am vormundschaftlichen Verfahren beteiligten Berufsgruppen. „Massive Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen waren bisher nur möglich, weil alle, die daran beteiligt sind — Heimleitung, Heimaufsicht, Vormundschaftsgerichte, Ärzte, Pflegepersonal, Vormünder und Pfleger, Angehörige —, vor diesen Problemen die Augen geschlossen haben, bis hin zur stillschweigenden Kumpanei.“

Die Ungeduld des stets unter Dampf stehenden sozialen Ganzen mit Alten und psychisch Kranken leistet dabei, wie zahlreiche Forschungen belegen, heimlichen Vorschub: Die Verhaltenserwartungen an alte Menschen werden immer restriktiver. Und die Bereitschaft, ungewöhnliches Verhalten der Betagten und seelisch Angeschlagenen zu tolerieren, wird immer schwieriger in einer Gesellschaft, die Selbständigkeit und individuelle Freiheit hoch bewertet. Wer mehrfach vergessen hatte, seine Miete zu zahlen oder seine Kohlroulade vom Feuer zu nehmen, wer vor Behörden-Korrespondenz kapitulierte oder nicht mehr wußte, wo er wohnt, fand sich schnell als Objekt eines Pflegschaftsverfahrens wieder, das von wohlmeinenden Ärzten oder überforderten Angehörigen angestrengt worden war. Hilfsbedürftige, die mit ihrer Unterschrift die Pflegschaft annahmen, spielten unwissentlich Roulette um Grundrecht und Menschenwürde. Mit einer Portion Glück erhielten sie genau das Maß an Unterstützung, das sie zur Bewältigung ihrer individuellen Probleme brauchten: Der Vormundschaftsrichter fand einen engagierten Mitmenschen, den er zum ehrenamtlichen Pfleger ausschließlich für den Lebensbereich, den sogenannten Wirkungskreis, einsetzte, in dem der Pflegling Unterstützung benötigte.

Rechtliche Schwachstellen und eklatante Auswüchse landläufiger Pflegschaftspraxis mehrten indessen die düstere Aussicht, persönliche Freiheit und Lebensfreude unwiederbringlich einzubüßen. „Viele alte Leute wurden von ihren Kindern in eine Pflegschaft hineingeredet“, lautet die Erfahrung von Ulrike Mahnkopf, Vorsitzende des 1. Vormundschaftsgerichtstages. Ähnliches gilt für geistig und seelisch Kranke, denen die Psychiatrie ein Leben auf eigene Faust nicht mehr zutraut. „Ärzte lassen mittlerweile Verfahren zur zwangsweisen Krankenhausunterbringung von vornherein über Pflegschaftsverträge laufen“, monierte noch im letzten Jahr die Hamburger Rechtsanwältin Rita Brockmann-Wiese. „Weil dieses zivilrechtliche Verfahren häufig zu lange dauert, wird nicht selten das öffentlich-rechtliche Unterbringungsverfahren vorgeschaltet, Polizeirecht und Zivilrecht fließen ineinander. Deshalb ist es wichtig, die Grenzen fürsorglichen Zwanges gegenüber Verrückten, Verwirrten und Lebensmüden deutlich abzugrenzen.“

Im Gegensatz zur Entmündigung war die Pflegschaft ursprünglich vom Gesetzgeber als freiwillige, ja gewünschte Hilfe bei der Alltagsbewältigung gedacht. Nur in Ausnahmefällen, wenn mit dem Betroffenen „eine Verständigung nicht möglich ist“, sollte die Pflegschaft auch ohne seine Einwilligung eingerichtet werden. „Diese Bestimmung wurde seit Jahrzehnten unheimlich weit ausgelegt“, so Ulrike Mahnkopf. „Zwangspflegschaften, die in der Praxis einer Entmündigung gleichkommen, waren weit in der Überzahl.“ Zu den Kritikpunkten am alten Recht aus dem Jahr 1900 gehörte auch, daß bei Pflegschaften — im Gegensatz zur Entmündigung — ein Gutachten und die Anhörung der Betroffenen nicht gesetzlich vorgeschrieben waren: Der Amtsrichter konnte Pflegschaften erheblich bequemer abhandeln als Entmündigungen. „Hier liegt ein Grund für die enorme Anzahl von Pflegschaften, die im Schnellverfahren angeordnet wurden, und das auch noch oft in großen Wirkungskreisen wie Vermögensangelegenheiten und Aufenthaltsbestimmung. Dies sind verkappte Entmündigungen“, erklärt John Gelübke, Vormundschaftsrichter in Hamburg, das als einziges Bundesland Richter ausschließlich für Vormundschaftsangelegenheiten beschäftigt.

Willkürlich vollzog sich vielfach auch die Suche nach der Person, die über Wohl und Wehe der Pflegeperson zu entscheiden hat. Waren keine Angehörigen für diese Aufgabe zu verpflichten, wurden die Hilfsbedürftigen ehrenamtlichen Pflegern anvertraut, die der Richter oft „in seiner Not mit dem Finger im Telefonbuch ausfindig gemacht hatte“, so Ulrike Mahnkopf. Oder sie gehörten fortan zu den oft weit über hundert Mündeln eines Berufspflegers, etwa eines Anwalts — nicht viel mehr als eine Karteileiche.

Lange Listen der alltäglichen Entrechtungen

Das hat bittere Folgen vor allem für jene, die ihr Leben — oder was davon übrig ist — in Heimen und Pflegestationen verbringen müssen. Lang ist die Liste der alltäglichen Entrechtungen, die die Teilnehmer des 1. Vormundschaftsgerichtstages anklagten: Akuter Personalmangel und das Haftungsrisiko bei Stürzen oder Verletzungen Gebrechlicher führten zur ausgiebigen Anwendung „freiheitsentziehender Maßnahmen“ wie Bauchgurt, Armfesseln und Bettgitter. Heimärzte ließen das Pflegepersonal Medikamente „nach Bedarf“ dosieren und öffneten so dem Mißbrauch von Psychopharmaka Tür und Tor. Gerichte seien allzuschnell bereit, solche Maßnahmen pauschal und ohne Überprüfung abzusegnen. Die Beschneidung von Freiheitsrechten verwirrter Menschen durch Video-Überwachung, Trickschlösser und Gewaltanwendung mit Hilfe eines ganzen Arsenals von Fesselungsinstrumenten werde vielfach als normal angesehen — ein Unrechtsbewußtsein fehle.

Ein wachsendes Empfinden für die Diskrepanz zwischen gewollter Fürsorge und praktizierter Diskriminierung hat andererseits schon vor Jahren Bestrebungen in Gang gesetzt, das geltende Recht zu reformieren. Das „Betreuungsgesetz“ soll nun „unnötige Entrechtungen abschaffen und individuelle Freiheitsrechte soweit wie möglich erhalten“. Es sieht unter anderem vor

— die ersatzlose Streichung der Entmündigung. An Stelle von Vormundschaft und Pflegschaft tritt die „Betreuung“, die keine automatische Auswirkung auf die Geschäftsfähigkeit mehr hat.

— die Festschreibung von Rechtsschutzgarantien für die Betreuten. Anhörung und psychiatrisches Gutachten sind nunmehr vorgeschrieben. Die Betreuung wird auf fünf Jahre befristet. Alle alten Fälle sind innerhalb von fünf Jahren zu überprüfen. Viele Entscheidungen des Betreuers gegen den Willen des Betreuten wie Unterbringung, Heilbehandlung, Wohnungsauflösung, auch Eingriffe in die Bewegungsfreiheit müssen vom Vormundschaftsrichter genehmigt werden.

— eine neue Gewichtung der Personensorge, die künftig Vorrang vor der Vermögenssorge haben soll. Der Betroffene soll persönlich betreut werden, die vielbeklagte anonyme Fallverwaltung der Vergangenheit angehören.

— den Vorrang der Wünsche des Betreuten, soweit dies „seinem Wohl nicht zuwiderläuft“. Dazu gehört auch ein größeres Mitspracherecht bei der Wahl des Betreuers, dessen Aufgaben- und Einflußbereich so klein wie möglich zu halten ist.

Fachleute aus Justiz und sozialem Dienst begrüßen zwar die größere Rechtssicherheit und den Ausbau der persönlichen Betreuung. Erhebliche Zweifel gibt es aber daran, das neue Gesetz praktisch umzusetzen. Ganz obenan rangiert die Skepsis, die erforderliche große Zahl von ehrenamtlichen Betreuern zu gewinnen. In Anlehnung an das österreichische Sachwaltergesetz soll die Betreuung durch Privatpersonen über sogenannte Betreuungsvereine erreicht werden. Hauptamtliche Sozialarbeiter dieser Vereine übernehmen selbst schwierige Fälle, stehen aber im übrigen als Berater von ehrenamtlichen Kräften zur Verfügung. Für diese privaten Betreuer ist eine Unkostenpauschale von ganzen 240 Mark jährlich vorgesehen — „eine absurd niedrige Summe“, meint Ulrike Mahnkopf.

„In unserer Dienstleistungsgesellschaft ist diese Vergütung von Privatinitiative als Anreiz viel zu gering. Am Ende löst man dann das Problem wieder wie zuvor, indem man einen Einweisungsantrag fürs Altenheim stellt“, lautet auch die düstere Prognose von Enno Stakemann, Mitarbeiter der Grauen Panther Hamburg.

Eine Fortsetzung des alten Stils befürchten Gesetzeskritiker auch, was den ab 1992 befohlenen Aufwand der Gerichte angeht. „Eine Reihe von Ausnahmeregelungen — gedacht als Hilfe in Notsituationen — ermöglicht aber doch wieder eine Einschränkung der Verfahrensgarantien. Die Gefahr einer Verwässerung geltenden Rechts besteht nach wie vor“, so Vormundschaftsrichter John Gelübke. Als problematisch empfindet Gelübke überdies das freundliche Etikett. „Der Begriff ,Betreuung‘ leistet noch mehr Schwellenabbau, zumal es sehr einfach ist, ein Betreuungsverfahren in Gang zu setzen. Jeder — Nachbarn, Bekannte, Vermieter — kann den Stein ins Rollen bringen. Das hat sicher sein Gutes, wo Hilfe nötig ist. Man darf aber nicht vergessen, daß jeder helfende Eingriff eben auch ein Eingriff in die freie Selbstbestimmung ist.“

Ohne Willen, also auch ohne Macht?

Dazu kommt die Pflicht zur Überprüfung aller alten Fälle — freilich in einem Zeitraum von zehn Jahren: Pfleglinge und Mündel, inzwischen unter dem Begriff „Betreute“ zusammengefaßt, brauchen einen langen Atem, um gehört zu werden. Bei Ingeborg P. hat eine solche Anhörung durch das Ahrensburger Vormundschaftsgericht kürzlich stattgefunden. Der anwesende psychiatrische Sachverständige attestierte ihr inzwischen einen Mangel an Willensbildung. Wem die Fähigkeit abgesprochen wird, einen eigenen Willen zu bilden, der darf auch keinen Anwalt mehr beauftragen — eine Gesetzeslücke, die das neue Recht nicht geschlossen hat.

Ingeborg P. wird somit auch ihren letzten Fürsprecher verlieren. Sie hat kaum Aussicht, der seelischen und geistigen Öde ihres aufgezwungenen Lebensraums zu entkommen und wieder die Annehmlichkeiten eines finanziell abgesicherten Lebensabends zu genießen: Der Betreuer allein bestimmt ihr Schicksal.

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