Mündige Patienten fordern mündige Ärzte

Unabhängige Beschwerdestellen und Qualitätsstandards ärztlichen Handelns sollen die Rolle des Patienten stärken  ■ Von Eva Schindele

„Machen Sie sich bitte frei!“ Wer kennt sie nicht, diese Routineaufforderung des Arztes? Nicht selten schon formuliert, bevor die Begrüßung per Handschlag stattfindet. Wir entblößen uns wie selbstverständlich zu halbnackten Objekten, die der Arzt diagnostizieren und vielleicht auch therapieren kann. Wir wünschen schnelle Hilfe. Und nicht selten delegieren wir mit der Abgabe des Krankenscheins auch die Verantwortung für uns an den Doktor. Wo bleibt in diesem Kommunikationsmuster der mündige Patient?

„Der mündige Patient — eine Illusion?“ hieß denn auch eine Tagung, die vor kurzem in Bremen stattfand. Eingeladen hatte unter anderen der Bremer Gesundheitsladen und die Hamburger Patienteninitiative. Gekommen waren rund 150 Experten: Patienten, Ärzte, Vertreter von Selbsthilfegruppen und Gesundheitsläden, Mitarbeiter von ärztlichen Schlichtungsstellen und Behördenvertreter. Die Patienten sollten mehr Verantwortung für sich und ihre Gesundheit übernehmen und die Ärzte dialogfähiger werden, forderten die Tagungsteilnehmer. Das sei eine Bedingung für Mündigkeit ebenso wie mehr Transparenz im Gesundheitswesen.

Dabei geht es nicht nur um mehr Transparenz im persönlichen Arzt- Patient-Kontakt, um Aufklärung über Nebenwirkungen, Offenlegung der Krankenakte oder der Abrechnungsmodalitäten, sondern auch um strukturelle Veränderungen: „Die traditionell schwache Rolle der Patienten im Gesundheitswesen muß gestärkt werden“, forderte Clemens Müller vom Bremer Gesundheitsladen. Eine Stützung der Patienteninteressen durch bessere Orientierungshilfe im Dschungel des Gesundheitssystems sehen die Veranstalter in der Einrichtung unabhängiger Patientenstellen, die sowohl als Berater in Streitfällen wie auch als Lobby im Gesundheitswesen auftreten können. Auch Patientenfürsprecher in Krankenhäusern könnten das Ausgeliefertsein von Patienten in der totalen Institution „Krankenhaus“ zumindest abfedern. Allerdings sollten die Patientenfürsprecher nicht wie bisher ehrenamtlich, sondern hauptamtlich tätig sein und mit mehr Befugnissen ausgestattet werden.

Wichtig ist, daß die PatientInnen ihre Rechte kennen und gewillt sind, sie auch durchzusetzen. Unabhängige Patientenstellen können dabei als Unterstützung und Orientierungshilfe dienen. Durch ärztliche Praxis geschädigte Patienten warnten auf der Tagung vor der Gefahr, sich im juristischen Gestrüpp zu verlieren. Viele RechtsanwältInnen hätten auf dem Gebiet der Arzthaftung keine Ahnung. Um neben den körperlich erlittenen Schäden nicht auch noch ein finanzielles Fiasko zu erleben, sollten erst einmal unabhängige Patientenstellen aufgesucht werden. Diese könnten die PatientInnen gegebenenfalls an kompetente juristische ExpertInnen weitervermitteln. Vor allem die Klägerin brauche für eine gerichtliche Auseinandersetzung einen langen Atem. Deshalb seien Konfliktlösungsmöglichkeiten auf einer niedigeren Stufe angemessener.

Eine solche Konfliktlösungsmöglichkeit sieht der Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber in der Einrichtung einer Beschwerdestelle: „Patientenbeschwerden sind das Fieberthermometer für ärztliches Handeln“, resümiert Huber die Arbeit der Beschwerdestelle. Rund 500 Klagen von Patienten gab es 1991. Typisch ist die Beschwerde einer Patientin, die an die Berliner Ärztekammer schrieb: „Mein Arzt nimmt mich nicht ernst.“ Neben Behandlungs- oder Diagnosefehlern sind zu lange Wartezeiten und zu kurze und oberflächliche Audienzen im Sprechzimmer eine der Hauptklagen. Ellis Huber hofft durch die Einrichtung der Beschwerdestelle das Arzt-Patient-Verhältnis zu verbessern und betrachtet das subjektive Erleben der Patienten als einen Qualitätsmaßstab für ärztliches Handeln.

Der mündige Patient erfordert den mündigen Arzt. Nach Aussagen des Bremer Internisten Hermann Schulte-Sasse jedoch ist es mit der Mündigkeit vieler Mediziner nicht weit her: „Die Informationen des Arztes sind häufig von Pharmaindustrie und Geräteherstellern interessengesteuert. Dadurch entsteht ein verzerrtes Bild bei den Ärzten und eine problematische Berufspraxis.“ Nicht selten verordnen nämlich Ärzte Medikamente, deren Wirksamkeit bislang nicht nachgewiesen werden konnte, oder solche, die sogar schädlich sind. Beispiele dafür sind die zu häufige Verordnung von Antibiotika selbst bei Krankheiten, die nicht durch Bakterien, sondern durch Viren hervorgerufen sind, oder die Verschreibung von Tranquilizern bei allgemeinen Befindlichkeitsstörungen. Außerdem würden labortechnische und bildgebende Verfahren wie eine Art „Schrotschußdiagnostik“ viel zu häufig ungezielt eingesetzt. Schulte- Sasse fordert deshalb Therapiestandards als Orientierungspunkte für niedergelassene Ärzte. Diese seien in skandinavischen Ländern und in Holland bereits üblich und führten zu einer fundierteren ambulanten Versorgung als in Deutschland.

Bereits seit Jahren beklagen kritische Mediziner die geringe Bereitschaft deutscher Ärzte zur Selbstkritik. Der Internist Prof. W. Dißmann, Initiator des Berliner Herzzentrums: „Die Bereitschaft und Fähigkeit gerade deutscher Mediziner, die Angemessenheit, Effizienz und Konsequenzen des eigenen Handelns kritisch zu befragen — zu Virchows Zeiten einst hoch entwickelt — befindet sich heute auf einem Tiefpunkt.“

Eine offene Diskussion in der Ärzteschaft ist für den Internisten Schulte-Sasse eine wichtige Voraussetzung zur Entwicklung von Qualitätsstandards im Gesundheitswesen. „Die Ärzte müssen weg von ihrem Mythos, die deutsche Medizin sei die beste der Welt. Sie sollten eine Bestandsaufnahme machen und anfangen, ihre Defizite zu beseitigen.“ Ein erster Schritt in diese Richtung wären sogenannte Qualitätszirkel, in denen sich niedergelassene Ärzte zusammenfinden, um die eigene Arbeit gemeinsam zu reflektieren und Therapiestandards zu entwickeln. Daneben wäre dies auch eine Chance, die Vereinzelung vieler Niedergelassener aufzugeben und sich nicht vom Wust ständig neuer medizinischer Erkenntnisse erdrücken zu lassen. Schulte-Sasse ist sicher, „daß wir dadurch mit weniger Kosten eine deutlich bessere ambulante Therapie betreiben könnten“.

Die Tagungsteilnehmer begrüßten die ärztlichen Vorschläge zur Qualitätsverbesserung im Gesundheitswesen. Trotzdem äußerten sich viele auch skeptisch, ob sich von ärztlicher Seite wirklich was bewegen wird. Ruth Rüegg-Dual, die Initiatorin der bereits Ende der siebziger Jahre gegründeten Patientenstelle in Zürich, glaubt, daß nur durch den Druck der Patienten Bewegung in die starren Strukturen des Gesundheitswesens zu bringen ist. Wünschenswert wäre eine starke Lobby der Patienten, die es ähnlich wie die Ärzte versteht, standesbewußte Politik zu machen.