: Bürger-Sheriffs gegen Neonazis?
Jugendliche Neonazis feierten Hitler-Geburtstag im mecklenburgischen Dorf Jamel/ Polizei sieht Hakenkreuzfahne — und geht/ Dörfler diskutieren über Bürgerwehr gegen Neonazis und Kriminalität ■ Aus Jamel Annette Jensen
Elisabeth Dumonti hockt auf einem Treckerreifen und schaut die Dorfstraße hinunter. Ein Kind müht sich mit seinem Plastikauto über das holprige Pflaster, Gänse watscheln durch einen Vorgarten. Es riecht nach Frühling. „Ich leb' hier so vor mich hin, trink meinen Kaffee. Ich komm' mit allen gut klar“, sagt die 77jährige und lächelt mit ihrem nach innen gefallenen Mund. „Hier in Jamel ist es ruhig.“ Ach ja, Ostersonntag, da war es laut. „Die Bengels haben gefeiert. Aber ich war müde und bin darüber eingeschlafen“, erzählt sie. Hitlers Geburtstag — nee, das habe sie nicht gewußt. „Ich interessiere mich nicht für Politik.“ Daß die gußeiserne Lampe von Nachbar Goscensky jetzt völlig verbogen sei, nein, das sei nicht in Ordnung. „Aber ich misch mich da nicht ein. Das müssen die Eltern Krüger mit Sven abmachen; die müssen ihn erziehen.“ Im Grunde stritten sich nur zwei Familien.
Renate Goscenskys Hände zittern, als sie sich eine Zigarette ansteckt. Dunkle Ränder unter ihren Augen zeugen von schlaflosen Nächten. „Bei jedem Geräusch schrecken wir hoch, schauen draußen nach“, sagt Andreas Goscensky. „Schon seit Wochen wußten wir, daß am 20.April was passiert. Und die Polizei wußte es auch.“ Im Bushaltestellenhäuschen steht unübersehbar in schwarzen Lettern: „20.4. 1992 Führer Geburtstag — Riesen Party bei Obsty“. Darunter ein Hakenkreuz. Obsty ist der Spitzname des Obsthändlersohns Sven Krüger, der im Nachbarhaus wohnt.
Schon am Nachmittag vorher rückten die ersten jugendlichen Glatzköpfe in dem 41-Seelen-Dorf an, schichteten Holz für ein Lagerfeuer auf und hißten Reichskriegs- und Hakenkreuzfahne. Bier- und Schnapsflaschen kreisten, Nazilieder hallten über den Dorfplatz. Zwei Polizisten fuhren zwar mit Blaulicht vor, zogen aber wieder ab. „Mit einer Schrotflinte unter der Jacke bin ich zu Goscenskys gegangen“, berichtet Gägelows Bürgermeister Fritz Kalf, zu dessen Amt das nordmecklenburgische Jamel gehört. Die „Geburtstagsparty“ wurde voller, die Gäste immer angetrunkener: Steine und Flaschen flogen. Aber erst nach Stunden, als die dritte Streifenwagenmannschaft zusammen mit den Goscenskys, Bürgermeister Kalf und zwei weiteren Männern im Haus der Familie eingekesselt war und die Skins das Haus zu stürmen drohten, rückte Verstärkung an. Aber als eine Stunde später ein Schuß fiel und Dorfbewohner Günter Kühl bei der Verteidigung seines Gartens am Kopf verletzt wurde, hatten die Ordnungshüter schon wieder das Feld geräumt. „Spätestens seit diesem Ostersonntag glaube ich, daß die Polizei unfähig ist, die Bürger zu schützen“, so der hemdsärmelige Kalf. Es bleibe nichts übrig, als über eine Bürgerwehr nachzudenken.
Günter Kühl ist noch krankgeschrieben; drei Tage mußte er in der Klinik bleiben. Jetzt steht er im Garten und inspiziert Setzlinge. „Ich wollte nur verhindern, daß die auf unser Grundstück kommen. Aber wer rechnet denn damit, daß sie 'ne Schreckschußpistole dabeihaben?“ Seine Stimme klingt unbeteiligt. Schwerfällig schleppt sich seine Mutter heran: „Auf der Straße kann jeder gehen. Was die da oben gemacht haben, geht uns nichts an. Wir verteidigen nur unsers — mehr geht uns nichts an.“ Warum die Leute auch immer die Politik ins Spiel bringen müßten. „Ach, blöde Ansichten hatten die schon“, sagt ihr Sohn und guckt zur Seite. „Ausländer gibt es hier ja gar nicht — oder meinten die die Schwarzhaarige von drüben?“ Aber die habe ja schließlich eine deutsche Mutter. Bedroht fühle er sich nicht. Er brauche keine Bürgerwehr.
Am Ende der Dorfstraße, im alten Gutshaus, wohnt Familie Krüger. Sohn Sven kriecht aus dem schwarz- silbernen Jeep, der im verwilderten Garten parkt. Auf der Garagenwand prangen SS-Runen und „Wir sind das Volk“, dahinter lagern Autowracks. Ein Pony rupft das hohe Gras. „Ich bin Sven Krüger, geboren am 10.4. '74“, stellt sich der erst 17jährige vor, der mehrfach am Tag mit dem Wagen durch den Wald crosst. Das Bubigesicht unter den kaum zentimeterlangen Haaren grinst, als Vater Detlef mit Armeemütze aus der Tür ruft: „Wir halten durch bis zum letzten Blutstropfen!“
„Von unserer Seite sollte alles friedlich sein“, schildert Sven seine Sicht der Dinge. Bürgermeister Kalf sei mit Gewehr, Schlagstöcken und Funkgeräten gekommen und habe Streit gesucht. „Die Polizei verhält sich fair, echt fair. Die haben die Sache hier abgesichert.“ Zwei Leute seien festgenommen worden — total besoffen eben. Die Nachbarn fühlten sich nicht gestört. „Nur Goscenskys versuchen krampfhaft, sich wichtig zu tun.“
Im Nachbarhaus herrscht Angst. „Es kann doch nicht sein, daß uns so ein Bengel alles kaputtmacht.“ Renate Goscensky hat Tränen in den Augen. „Nein, wir wollen uns nicht vertreiben lassen“ — sagt Andreas Goscensky ruhig, bedacht, ratlos. Er werde sich nicht bewaffnen, das heize die Sache nur noch an. Aus Furcht hütet er am Abend das Haus. Renate Goscensky fährt nach Gägelow, wo eine Talkshow zum Thema „Wie schützt der Staat seine Bürger?“ stattfindet.
Auch SPD-Bürgermeister Kalf sitzt auf dem Podium — hier hat er die Menschen auf seiner Seite. Rund 300 sind in das erst vor kurzem in die Landschaft gehauene Einkaufszentrum gekommen. „Die Hilflosigkeit der Polizei schreit zum Himmel“, ruft Kalf. Applaus. Ständig steige die Kriminalität — Einbrüche, Überfälle, rechtsradikale Ausschreitungen. Dafür sei man damals nicht auf die Straße gegangen, wettert der 61jährige Mitgründer des Neuen Forums in Mecklenburg-Vorpommern. „Wir wissen, wie gefährlich es sein kann, eine Bürgerwehr aufzubauen, aber wir wissen nicht, wie wir uns anders wehren können!“ Konkret sei noch nichts beschlossen, man diskutiere; viele Leute riefen an, um sich in Listen einzutragen. Renate Goscensky entspannt sich ein wenig.
Polizeiinspektor Schuldt versucht, seine Männer in Schutz zu nehmen: Heute zum Beispiel, da konnte ein Täter nach einem Überfall auf eine Apotheke festgenommen werden. Ansonsten — die Polizei sei im Umbruch, unterbesetzt, nicht angemessen ausgebildet. Es sei nicht einfach, Straftatbestände nach dem neuen Gesetz zu erkennen. „Jeder Bürger erkennt Straftaten!“ kommt es wütend aus dem Publikum. Auch Oberstaatsanwalt Sloty hat es schwer. „Dem Recht nach ist es nicht erlaubt, eine Bürgerwehr zu gründen“, warnt er. Dann müßten eben die Gesetze geändert werden, meint eine Frau, wild gestikulierend. Es könne ja wohl nicht angehen, daß der Staat die Täter statt der Bürger schütze. Was im Westen funktioniere, sei einfach nicht auf den Osten zu übertragen.
Am Wochenende wird Sven Krüger alias Obsty festgenommen. Und der Staatsschutz ermittelt gegen seinen Vater.
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