: Setzt religiöse Freiheit andere Grundrechte außer Kraft?
■ "Turnen mit Kopftuch und ohne Buben", "Wertesalat - unverdaulich", taz vom 24.4.92
betr.: „Turnen mit Kopftuch und ohne Buben“, „Wertesalat — unverdaulich“, Kommentar vom Zafer Senocak, taz vom 24.4.92
[...] Ziele des Sportunterrichts sind zum Beispiel: Entwicklung des Selbstbewußtsein, mehr Lebensfreude durch spielerische Selbstbetätigung, Einübung sozialer Verhaltensweisen gerade auch gegenüber dem jeweils anderen Geschlecht, Heranbildung mündiger Menschen. Ein guter Sportunterricht wird diese Ziele zumindest ansatzweise verwirklichen helfen.
Einem muslimischen Mädchen wird dieser Unterricht nun aufgrund eines Gerichtsurteils vorenthalten. Interessant erscheint mir das Gerichtsurteil angesichts der Bestimmungen unseres Grundgesetzes, Artikel 3: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Dieser Artikelabsatz ist zum Beispiel, was Wirtschaft und öffentlichen Dienst anbelangt, keineswegs realisiert, aber daß ein Verfassungsgrundsatz durch ein OVG-Urteil außer Kraft gesetzt wird, erscheint mir denn doch ganz und gar unerträglich, denn soweit ich weiß, wird bislang kein einziger moslemischer Junge vom koedukativen Sportunterricht ferngehalten, weil das Schamgefühl des jungen männlichen Moslems bedroht oder gefährdet ist.
Es stellt sich die Frage: Setzt die religiöse Freiheit andere Grundrechte einfach außer Kraft? Ist die Religionsfreiheit ein Grundrecht besonderer Art? Ich bin mit Karl Marx der Ansicht, daß Religion Opium fürs Volk ist, und mit Lenin, daß sie geistigen Fusel darstellt, ob es sich um islamisches Opium oder christlichen Fusel handelt, das lasse ich offen. Ich meine aber auch mit Voltaire, daß jeder Mensch das Recht hat, eine noch so abstruse oder verrückte Ansicht zu äußern, privat und gleichermaßen in der Öffentlichkeit, bin also ein entschiedener Anhänger der Religionsfreiheit. Nur glaube ich, sollte die Religionsfreiheit als „Unterrecht“ der Meinungsfreiheit gelten und nicht als vor anderen Menschenrechten und Grundrechten privilegiert wie im obigen Fall bevorrechtigt vor dem Recht auf Gleichberechtigung und dem Recht auf eine umfassende demokratische Erziehung. [...]
Eine multikulturelle Gesellschaft kann nur auf der Basis der Menschenrechte erfolgreich sein, das islamische Recht ist aber nicht mit den Menschenrechten zu vereinbaren. Der oberste Gerichtshof Ägyptens setzte unter dem Druck der Moslembruderschaft im Mai 1985 eine Notverordnung aus dem Jahre 1979 außer Kraft, die den Frauen die Gleichberechtigung zusicherte. Artikel1 der Menschenrechtserklärung lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, dagegen beachte man etwa den Artikel1 des marokkanischen Personenstandsgesetzes: „Die Heirat ist ein rechtskräftiger Vertrag... auf festen Grundlagen und unter der Führung des Mannes.“ (Code du Statut personnel von 1957). [...] Hartmut Wagner, Schwerte
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