Texturen von Städten

Oswald Mathias Ungers und Arata Isozaki: Virtuose Anwender geometrischer Prototypen  ■ Von Martin Kieren

Kompositionsprinzipien in der zeitgenössischen Architektur — manche sprechen von der „Neuen Architektur“ — herauszufiltern, zu erkennen und zu benennen, ist angesichts der herrschenden Stilvielfalt und wechselnden Strömungen kaum mehr möglich. Wahrscheinlich auch nicht nötig. Wir können es getrost nachfolgenden Generationen überlassen, Stile zu entdecken, zu erfinden und zu bewerten. Als Zeitgenossen noch lebender Architekten können wir Phänomene verfolgen, unseren mehr oder weniger ausgesprägten Geschmackssinn befragen und uns über „schön“ oder „häßlich“, „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“ streiten. Aber eben, mehr ist momentan nicht in Sicht: Architektur und Baukultur als öffentliche Streitkultur fehlt.

Denn zu einer solchen Streitkultur gehört mehr als das Geplänkel über Geschmacksfragen. Es reicht nicht, wenn das öffentliche Interesse gelegentlich durchscheint an dieser oder jener Bauaufgabe: das Hochhaus als Alternative (ja oder nein), Platz lassen oder gar nicht bauen. Es fehlen Maßstäbe und Kriterien, mit denen man Architektur betrachtet — und eben nicht gleich bewertet. Diese Kriterien wiederum werden andernorts aus einer viel breiteren öffentlichen Diskussion gewonnen, an der sich auch die Architekten beteiligen. Man läßt sie zu Wort kommen — und nicht nur bauen. Hierzulande fristet die Architektur in allen Medien ein eher marginales Dasein — und so eben auch das Instrumentarium der Architektur-Betrachtung, das sich durchaus herausbilden läßt, um mit anderen Augen — wohlwollender oder auch kritischer — hinzublicken auf das, was gemeinhin unter Architektur rubriziert wird.

Die Alten nannten es Baukunst. Das Wort klingt manch einem vielleicht zu antiquiert. Was aber die Ausdrucksmöglichkeiten, die Mittel und die eigentliche Idee der Architektur betrifft, so kann man beruhigt das eine oder andere Mal von Kunst sprechen. Denn auch bei dieser hat man sich daran gewöhnt, von Gefallen und Nicht-Gefallen zu reden und mitnichten käme jemand auf die Idee, Kunst anders zu benennen als eben Kunst — selbst wenn sie nicht gefällt.

Zum anerkannten Kanon der modernen Kunst gehört es längst, konzeptionell zu arbeiten, das heißt ein Konzept für die Suche und Findung als auch für die Herausarbeitung und Darstellung einer Sache zu entwickeln. Nicht das dargestellte und nicht die Malbewegung zum Beispiel stehen im Vordergrund oder sind letzter Zweck dieser Produktionsweise — sondern die Idee des Produzenten. Diese Idee im Kopfe dessen, der uns die Ergebnisse, die diese Art des Arbeitens zeitigt, präsentiert, wird im besten Falle schließlich auch zum Ausgangspunkt der Überlegungen derer, die diese Ergebnisse betrachten. Das gelingt nicht immer — aber mit der Zeit und bei steigender Anzahl der Ergebnisse können wir so etwas wie Kontinuität feststellen und einen Einblick in das Denken des Anderen gewinnen — auch hier wieder gilt: mal mit und mal ohne Gewinn.

Der Zwang zu Ordnung

Der 1926 in der Eifel geborene Architekt Oswald Mathias Ungers gehört zu dieser Art Baumeister — auch so ein alter, aber bewährter Begriff —, denen das konzeptionelle Arbeiten seit je eigen ist. Ein soeben erschienenes Buch präsentiert uns seine Arbeiten aus den Jahren 1951 bis 1990. Es birgt also ebenso die Überlegungen und Bau-Ergebnisse eines Vertreters der jungen Nachkriegsgeneration als auch die eines Architekten, der während eines längeren Zeitraumes (fast die gesamten siebziger Jahre hndurch) nicht gebaut, sondern ausschließlich denkend, lehrend und eben konzeptionell entwerfend gearbeitet hat, vornehmlich in den USA.

Allein an der Bibliograhie, die in diesem Buch abgedruckt ist, erkennt man die Bandbreite der Themen, über die Ungers schreibend nachgedacht hat. Zwar sind es häufig erläuternde Texte zu seinen Entwürfen und Bauten — doch einen Großteil seiner Veröffentlichungen widmet er Fragen der zeitgenössischen Architekturpraxis und grundsätzlichen theoretischen Überlegungen: Ungers stellt das Denken vor den Fall. (Ein Teil dieser Texte ist im vorliegenden Buch abgedruckt. Darunter zum Beispiel sein Aufsatz „Das Janusgesicht der Architektur“, ein Aufsatz, der zuerst verändert in seinem Buch zu den Sieben Variationen des Raumes über die Sieben Leuchter der Baukunst von John Ruskin erschienen ist; in der Bibliographie fehlt dieses Buch eigenartigerweise, und der Aufsatz selbst wird nur in seiner englischen Übersetzung aufgeführt.)

Man muß nun gar nicht mit allem einverstanden sein, was Oswald Mathias Ungers in den letzten Jahren gebaut hat (sein Messeturm in Frankfurt und auch seine in den IBA-Jahren in Berlin gebauten Gebäude haben ihm oft laute Kritik eingebracht) — aber man muß anerkennen, daß es ihm immer um Aufrichtigkeit und die Authentizität seiner Konzeption ging. Früh hat er den historischen Kontext der Stadt, das stadträumliche Gefüge in seine Überlegungen mit einbezogen, früh hat er Texturen und Strukturen der Städte erkannt und benannt, und eigenwillig hat er — wie ein Zahlenmystiker — operiert mit der Teilung von Flächen und Kuben nach einem strengen, doch harmonischen System.

Ungers hat sich einen so eigenständigen Weg durch die Architektur der letzten drei Jahrzehnte gebahnt und blieb gleichzeitig von so manischer Sucht nach Qualität und theoretischer Positionsbestimmung beseelt, daß man von Baukunst im eigentlichen Sinne sprechen muß, will man seinem Werk auch nur annähernd gerecht werden. Oder anders: In allen seinen Bauten steckt auf vertrackte Weise ein kleines Manifest, das es zu lesen gilt, will man nicht einzig mit Geschmacksfragen sich seinen Bauten nähern — und will man mehr, als sich der Vokabeln „schön“ oder „häßlich“ bedienen, nämlich im besten Sinne Architektur „lesen“.

Natürlich birgt ein solcher Weg auch Stolpersteine. Die Sackgasse der zwar exzellent durchexerzierten, aber viele Bauaufgaben einengenden Quadratur ist seiner letzten Produktionsphase wie ein Mahnmal eingeschrieben. Aber es behindern nun ausgerechnet Kreis und Quadrat — gleichsam als vermeintliches Maß aller Dinge: als geometrische Prototypen — bei derart exzessiver und bedingungsloser Anwendung auch das eigene Konzept, und vor allem steht es der Zustimmung breiterer Rezipienten-Kreise im Wege. Trotzig fast möchte man die Haltung des Architekten nennen, mit der er auf jede Bauaufgabe reagiert, als warte sie nur auf dieses Quadrat. Dieses birgt aber eben nicht die angestrebte und erwünschte Vielfalt von Lösungs- Möglichkeiten bei einem Entwurf, sondern es schränkt sie das ein um das andere Mal ein: Eben weil es andere errechenbare Figuren der Geometrie und somit andere Grundformen und Varianten ausschließt. Wenn auch — nach geometrischer Zerlegung — in jedem Quadrat das Rechteck steckt (et vice versa), so ist die Anwendung des letzteren zur Gliederung einer Fassade (aufrecht stehende Fenster zum Beispiel) manchesmal noch die feinere und harmonischere (und in manch städtischem Kontext passendere) Lösung, als die unbedingte Anwendung des Quadrats beziehungsweise des quadratischen Lochs.

Die gebaute Manifestation des Quadrates, (ausgerechnet) mit dem „Deutschen Architektur Museum“ in Frankfurt am Main (1979 bis 1984) vorgestellt (dem ersten und einzigen dieser Art in Deutschland), birgt gleichzeitig einen Teil der grundlegenden theoretischen Konzeption Ungers', aber auch eine feine, fast britische Ironie (da schmunzelt das Quadrat): Seht her! Ich bin die Mutter der Künste —; und doch auch den Beweis dafür, daß man nicht immer bauen muß, was es auch anders, unter Umständen theoretisch — und dort besser — zu beweisen gäbe: daß der Ursprung der europäischen Baukunst in der Vermessung des eigenen Körpers liegt (man denke an Leonardos Nabelschau im Kreis-Quadrat), diese aus ihm seine Geometrien entwickelt hat, dieser Ursprung sich aber einer idealistischen Position verdankt.

Das vorliegende Buch ist als Werkschau übersichtlich, breit und ausgesprochen gut illustriert (schwarzweiß und farbig). In der instruktiven Einleitung unternimmt Fritz Neumeyer den Versuch der Enträtselung des „Architektonischen Enigmas“ (Aufsatz-Untertitel: „Ein Ganzes für sich und eine Einheit aus Einzelheiten“). Der eigentliche Katalog geliedert sich nach thematischen Schwerpunkten der theoretischen Positionsbestimmungen, die dieses Werk auszeichnet: Architektur im Wechselspiel von Positiv- und Negativ-Raum; Das Haus als Abbild der Stadt; Architektur im Kontext; Die Realisierung der Idee; Architektur als Kunstwerk; Elementare Architekturen. Texte von Ungers, ein Werkverzeichnis mit (was heutzutage gar nicht so üblich ist) der jeweiligen Nennung wirklich aller beteiligten Mitarbeiter eines Projektes, biographische Daten und ein ausführliches Literaturverzeichnis schließen das Buch ab. Ein Stück Bau-Kultur der letzten 40 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland wird damit vorbildlich dargestellt.

Japanische Ironie...

International so berühmt wie der deutsche Architekt Ungers ist auch der aus Japan stammende Arata Isozaki. Es mag an der Kontinuität liegen, mit der dieser Vertreter der Baukunst seit Jahren mehr oder weniger spektakuläre Bauten verwirklicht, die ihn in die erste Reihe der zu nennenden zeitgenössischen „Klassischen Modernen“ stellt. Seine Baustellen kann er nur noch per Jet abfliegen, sie liegen mittlerweile ebenso selbstverständlich in den USA, in Europa oder Japan. In Barcelona stellte er gerade sein letztes Meisterstück, eine Sporthalle, fertig: eine gigantische Hallenkonstruktion, die von einem einzigartigen, extra für diesen Zweck entwickelten, doppellagigen kuppelförmigen Tragwerk überwölbt wird, und die Teil des Montjuic, des Olympia- Geländes, ist.

Komposition im eigentlichen Sinne ist ihm fremd: Seine Arbeiten haben ihren Ursprung ebenfalls im Konzeptionellen, leben vom poetisch-abstrakten Eigensinn, gepaart mit einem ausgeprägten Hang zum Manierismus, zwischenzeitlich zum Postmodernismus und zum Pittoresken. Aber auf all diesen Parketts bewegt er sich mit sicherem Gespür für die Überraschung, für das ausgefeilte Detail, für die Ironie. Was letztere in der Architektur meint, beschreibt David B. Stewart in seinem einleitenden Essay zu dem soeben erschienenen Buch Arata Isozaki (Architektur 1960-1990):

„Zur Entstehung von Witz und Paradoxie in der Architektur trug vor allem die Technologie bei, die Industrielandschaft und Industriearchitektur schuf und zur Verwendung industriell hergestellter Baumaterialien führte. In der Geschichte der Architektur stand Schinkel an der Schwelle dieser Entwicklung (...). Aber erst als der Historismus sich verbreitete, konnte die Übertreibung von Gegensätzen der Lächerlichkeit ausgesetzt und als Ironie genutzt werden. So entwarf der Wiener Architekt Otto Wagner noch am Ende des 19.Jahrhunderts Bauten mit den Mitteln, wie Schinkel sie verwendet hatte (wenn auch durch technologisches Vokabular und Zubehör bereichert), ohne irgendwelche Konzessionen an die Ironie zu machen. Adolf Loos, der ein paar Jahre später in derselben Stadt arbeitete, war ein Meister des beißenden, satirischen Essays über Fragen des Bauens. Aber seine eigenen Bauten besitzen, auch wo sie rhetorisch sind, keinen Funken Humor. Isozaki lernte viel von diesen beiden Europäern. Es heißt, Sir Edwin Lutyens sei der erste Architekt gewesen, der mit bewußter Ironie baute, und auch er ist Isozaki nicht fremd. Insgesamt glaube ich freilich, daß Isozakis Ironie ein japanisches Produkt ist.“

Ironie erzwingt eher ein verschmitztes Lächeln als große Lacher — und dies Lächeln ist bei der Betrachtung von Isozakis Bauten auch angebrachter als lautes Gebrüll. Diese Art der Feinheit, die vor allem bei seinen kleineren Wohnhäusern und Museumsbauten auftritt, ist ihm aber nicht immer eigen gewesen. Isozaki hat in den fünfziger Jahren bei Kenzo Tange gearbeitet und gelernt und zählt in Fachkreisen zu einem Metabolisten der ersten Stunde. Zwar will Isozaki nicht zu dieser Gruppe, die mit Megastrukturen und eingehängten Klein-Wohn- Zellen ganze Städte und Landschaften überzogen sehen wollte, gezählt werden — so ein spätes Nichtbekenntnis —, doch seine Projekte „City in the Air“ (1960/61), „Clusters in the Air“ und „Computer-Aided City“ (1972) zeugen von dieser Patenschaft und Zugehörigkeit zu

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dieser etwa zehn Jahre (1960 bis 1970) agitierenden Gruppe in Japan.

...versus International Style

Abere auch schon in seinen Frühwerken, als er noch fast ausschließlich Beton modellierte — der Architekturkritiker Reyner Banham kreierte dafür international den Begriff „Brutalism“ —, zeigte sich Isozaki von einer Seite, die vielen Kollegen in Westeuropa abging: Er verband das Material, beziehungsweise die in ihm steckenden Qualitäten mit höchsten Ansprüchen an kompositorische und bildhauerische Elemente. Er entzog sich dem Beton-Malstrom der internationalen Betonanwender durch ein ausgefeiltes System der Ineinanderschachtelung modellierter Einzelteile — um diese dann nie mehr aus den Augen zu verlieren, um sie noch in jedem späteren Projekt gleichsam wieder durchscheinen und auftauchen zu lassen. Eines dieser Einzelteile ist das halbrunde Tonnendach, das Isozaki in zahlreichen Projekten und Variationen bis heute wiederholt hat, und das für ihn fast ein ebensolches Markenzeichen ist wie für Ungers das Quadrat.

Das Buch, das nun seine Werke, die zwischen 1960 und 1990 entstanden sind, vorstellt, wurde 1991 als Katalog zu einer Ausstellung zum sechzigsten Geburtstag des Architekten vom Museum of Contemporary Art zusammengestellt. Mit dem Bau für dieses MOCA (1981 bis 1986) gelang Isozaki darüber hinaus die weltweite Anerkennung als einer der Führenden seiner Zunft.

In Berlin, bei dem jetzt ausgelobten Wettbewerb für das Gelände/die Gebäude von Mercedes-Benz am Postdamer Platz, gehören die beiden Architekten Oswald Mathias Ungers und Arata Isozaki zum ausgewählten Kreis der 14 Teilnehmer. Man darf gespannt sein, was im September der Vergleich (nicht nur) dieser beiden Weltbürger der Architektur für Ergebnisse zeitigen wird — für die Stadt und für die Baukunst.

Oswald Mathias Ungers — Architektur 1951-1990. Mit einem Beitrag von Fritz Neumeyer und einem ausführlichen Werkverzeichnis. 276Seiten und 710 Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag und Schuber, 148 Mark.

Arata Isozaki — Architektur 1960-1990. Mit einem Vorwort von Richard Koshalek und Beiträgen von David B. Stewart und Hajime Yatsuka und einem ausführlichen Werkverzeichnis. 304 Seiten mit 480 Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag und Schuber, 149Mark.

Beide Bände: DVA