: Ich möchte Sie auch etwas fragen
■ Gerhard Midding sprach mit Agnès Varda zum Start von „Jacquot“
taz: Madame Varda, Jacques Demys Filme steckten insgeheim voller autobiographischer Details. Wie stand er dazu, daß nun jemand anderes — Sie, seine Frau — einen Teil der Autobiographie verfilmte?
Agnès Varda: Ich muß Sie korrigieren: eine Autobiographie umfaßt ein ganzes Leben, aber Jacques erzählte vor allem von seiner Kindheit. Er sprach sehr gern über die Zeit von seinem achten bis zum achtzehnten Lebensjahr.
Natürlich war es auch wichtig für mich, in Jacquot von den Augenblicken zu erzählen, die einige der schönsten Momente in seinen Filmen inspirierten. Hauptsächlich erzähle ich aber von einem Jungen, dem es gelingt, auf die Filmhochschule zu kommen. In vielen amerikanischen Filmen steht am Ende der Erfolg; wenn ein amerikanischer Regisseur Jacquot gedreht hätte, hätte der Film in dem Moment aufgehört, als Jacques Demy in Cannes die Goldene Palme für Die Regenschirme von Cherbourg gewann. Nach meiner Ansicht lag für diesen Jungen der Erfolg schon allein darin, auf der Filmhochschule angenommnen zu werden; das war das Happy-End.
Ich erzähle also nicht von den Erfolgen des Cineasten Jacques Demy, sondern von seinen Ursprüngen, von seinen Empfindungen aus der Kindheit. Bei all meiner Liebe zu ihm und seinem Kino ging es mir vor allem um die Geschichte einer Kindheit, die nichts Beispielhaftes oder Historisches haben sollte, sondern von mir in Anlehnung an seine Ezählungen imaginiert wurde und die ich an den wirklichen Schauplätzen realisiert habe. Darin steckt eine gewisse Authentizität, die noch dadurch verdoppelt wird, daß der Erwachsene Jacques Demy die Geschichten bestätigt: „Ja, so war es.“
Das ist ein, wenn Sie erlauben, einzigartiges filmisches Abenteuer: Es ist sehr selten, daß jemand die Kindheit eines anderen rekonstruiert. Truffaut erzählt in Sie küßten und die schlugen ihn eine fiktive Version seiner eigenen Kindheit, aber Jacques Demy wollte sie gar nicht im Kino erzählen. Für ihn war sie eine Schatztruhe, aus der er winzige Stücke herausnahm, um sie in seinen Filmen umzusetzen. Meine Version dieser Kindheit habe ich mit Jacques' voller Zustimmung gedreht, und so ist das Kind in Jacquot eine eigenständige Kinofigur geworden. Für mich existiert sie, von drei verschiedenen Jungen verkörpert, als eine Art mythischer Kinofigur.
Werden diese Kindheitserinnerungen je in Buchform erscheinen?
Nein, das hat Jacques nicht gewünscht. Er hat einfach Notizen niedergeschrieben, ins Unreine sozusagen. Dabei hat er sich nie Gedanken darüber gemacht, als Autor eine Beziehung zu einer möglichen Leserschaft herzustellen. Es gibt allerdings einige Passagen, die sehr schön geschrieben sind. Aber es gibt zum Beispiel überhaupt keine Dialoge darin.
Was ist für Sie das Hauptthema des Films? Die Wurzeln und Quellen schöpferischer Prozesse?
Nein, das ist schon Thema Nr.2! Das Thema Nr.1 ist: Was weckt in einem Jungen, dem sämtliche sozialen und kulturellen Grundlagen dazu fehlen, den Wunsch, Filme zu machen? Sein Vater möchte, daß er Mechaniker wird, er aber versteift sich auf diesen Wunsch. Woher nimmt er die Energie für diesen Kampf, wo ihm ja auch kaum Mittel zur Verfügung stehen, ihn zu realisieren? Das Thema ist also die Anstrengung eines Jungen, seiner Berufung zu folgen.
Ein Bild aus Jacques' Erzählungen hat sich mir vor allem eingeprägt: In der Autowerkstatt seines Vaters soll er einen Reifen wechseln und vergißt dabei, den Schlauch aufzuziehen! Sein Vater ist wütend: „Was soll das? Wo hast du nur deine Gedanken?“, und er antwortet: „In Hollywood.“ Und zwanzig Jahre später war er in Hollywood; ich weiß es, denn ich war mit ihm zusammen dort. Das faszinierte mich: Wie wird ein Kindheitstraum wahr?
Aber Ihre Frage nach den Inspirationsquellen ist richtig, denn in bezug aufs Kino stellt man sie kaum. Es wird viel darüber gesagt, weshalb Flaubert oder Proust geschrieben haben, man beschäftigt sich damit, weshalb Goethe so war wie er war. Aber selten wird danach gefragt, weshalb Hitchcock, Dreyer, Bresson oder Wenders einen bestimmten Film machen wollten. Bei Bergman weiß man es, denn er hat selbst viel darüber gesagt. Aber sonst bleibt die Frage nach den Inspirationsquellen von Autorenfilmen offen. Und hier haben wir nun einen Einblick, vor allem in die Spiele der Kindheit, denn sie sind eine ganz entscheidende Quelle späterer künstlerischer Arbeit.
Das dritte Thema des Films ist schließlich: Wie kann man von der Kindheit eines Menschen erzählen, der einem sehr nahesteht und der sehr krank ist? Das ist ein etwas versteckteres Thema, das im Film wie ein gelegentliches Seufzen zu spüren ist.
Den Quellen spüren Sie nach, indem Sie Lebensaugenblicke mit Filmszenen verknüpfen. Wie haben Sie diese Szenen ausgewählt?
Ich habe den Verdacht, Sie begreifen den Film hauptsächlich als Hommage an Jacques Demy. Er ist es nicht! Ich habe ihn untertitelt als Evocation, ein Wachrufen von Erinnerungen. Wenn die meisten Leute „Hommage“ lesen, sagen sie sofort: „Nein, das schaue ich mir nicht an!“ Die kurzen Ausschnitte — insgesamt machen sie nicht einmal zwei Minuten aus, und das in einem Film, der fast zwei Stunden dauert — sind nur Anekdoten, kleine Streifzüge durch seine Filme, sie sind gemeint als kleines Augenzwinkern an die Cinéphilen, mehr nicht.
Tatsächlich ist die Erzählung von Jacquot sehr einfach, oder unschuldig: Der kleine Jacquot, seine Eltern, seine Kameraden, das sind für mich unschuldige Figuren. Ich bin es als Autorin des Films allerdings nicht: Ich weiß Dinge, die der kleine Jacquot und auch der normale Zuschauer noch nicht wissen können. Dennoch hoffe ich, daß der Charme des Films darin liegt, daß er einfach eine ganz bestimmte Kindheit erzählt. Ich fühle mich als die Freundin, die Begleiterin, vielleicht auch als Mutter des Jungen. Und ich möchte, daß man sich in diesem Film vor allem für den Jungen interessiert und ihn liebt.
Es hat mich überrascht, daß kleine Details aus Demys späteren Filmen auch schon in seinen ersten Trickfilmen, deren Dreharbeiten Sie ausführlich schildern, auftauchen: etwa das Hinuntergleiten auf dem Treppengeländer, das man auch in „Lola“ sieht.
Sie wollen mit mir immer nur über Jacques Demy sprechen, während ich vor allem über Jacquot sprechen möchte! Sie sind sehr eigensinnig, aber glauben Sie mir, ich bin es auch!
Das Treppengeländer ist Teil des Heimwegs von Jacquot. Automatisch verwendet er es in seinem Dekor für den Film Attaque Nocturne. Diese Dekors sind ja eine interessante Vermischung: die Dächer sehen so aus, wie er sich die Dächer von Paris vorstellte, die Treppen und Portale stammen aus Nantes. Die Vorstellungswelt des Jacquot von 14 Jahren ist geprägt vom französischen Vorkriegskino, von den Filmen René Clairs und anderer. Die Dekors von Alexandre Trauner, die das Bild des urbanen Paris entwarfen, vermischten sich in seinem Kopf mit Stadtansichten, die er kannte. Wir mußten diese Dekors übrigens mit Jacques' Hilfe rekonstruieren, denn sie existieren nicht mehr.
Ich wollte aber noch weitaus mehr rekonstruieren: die Geräusche der Zeit. Mit meinem Toningenieur bin ich oft auf Suche gegangen, um die Geräusche von Schubkarren, von Wagen, vom Gehen in Holzschuhen, vom Herstellen solcher Holzschuhe einzufangen. Die Geräusche, die der kleine Jacquot hörte: Pflastersteine, Geräusche aus dem Nachbarhof, in dem man Wolle bearbeitete und Matratzen herstellte. Und natürlich die Chansons der Zeit, denn sie sagen ja sehr viel aus über ihre Epoche. Deren Texte wollte ich immer auch in Bezug bringen zu den Dialogen der Figuren. Chansons spiegeln eine Mentalität wider, und damals revolutionierten Künstler wie der brillante Charles Trenet dieses Medium.
Ebenso wie die Wortspiele Préverts hatten seine Texte großen Einfluß auf die Dialoge Truffauts und die von Jacques Demy. Auch auf meine übrigens. Sie repräsentierten eine neue Art von Chanson, so wie später die „Nouvelle Vague“ eine neue Art von Kino darstellte. In den Tönen und den Bildern des Films steckt also eine gewisse Exotik, denn das Leben hat sich seither sehr verändert. Mir ging es um die Rekonstruktion der Bilder und Töne, die nach Jacques' Erzählungen auch in meiner Phantasie zu existieren begannen. Sie sehen, es geht um eine subjektive Erinnerung an diese Zeit, nicht um ein historisches Bild vom damaligen Leben in Nantes. Das Bild des Alltagslebens der Familie Demy ist auch von dieser Subjektivität geprägt. Nantes ist traditionell ein Ort starker sozialer Gegensätze; die Gewerkschaftsbewegung war dort immer sehr wichtig. In Jacquots Leben existierten diese Gegensätze aber nicht, der Freundeskreis der Familie, die Handwerker, Arbeiter etc. entsprachen dem Bild der Arbeiterklasse, wie es in Vorkriegsfilmen wie La belle Equipe dargestellt wurde: eine sehr fröhliche Gemeinschaft, die trotz des Geldmangels gern lachte und sang.
Sie betonen die Einfachheit der Erzählung von „Jacquot“. Tatsächlich spielt die Montage aber auf sehr komplexe Weise mit Assoziationen und Anspielungen.
Ich mag diese Art der Struktur: eine Collage, eine Kombination verschiedener Elemente, die vielleicht etwas kompliziert wirkt, aber letztlich nur dazu dient, eine sehr einfache Geschichte zu erzählen. Vogelfrei und Mittwoch zwischen fünf und sieben habe ich ganz ähnlich konstruiert: glatte Geschichten, die mit Eindrücken, Reflexionen, oft auch mit schmerzlichen Gedanken angereichert sind. Die Montage fügt dann verschiedene Elemente zusammen, um dem Zuschauer die Erzählung nahe zu bringen. Denn an den Zuschauer denke ich tatsächlich sehr viel: Ich frage mich, was erzähle ich den Leuten, die Eintrittsgeld bezahlt haben, werden sie sich amüsieren, werden sie sich für die Figuren interessieren, werden sie den Film verstehen?
Legen Sie diese Dinge schon im Drehbuch fest, oder entwickeln Sie sie während der Dreharbeiten und des Schnitts?
Ich schreibe keine Drehbücher! Seit zehn Jahren tue ich das nicht mehr, es erscheint mir zunehmend überflüssig. Ich erarbeite eine Struktur des Films, ich denke viel nach, ich träume. Ich lasse mich von den Schauplätzen inspirieren, von dem, was in einer Szene erreicht werden soll und von dem, was am Ort vorhanden ist: Wie sieht der Schauplatz aus, welche Figuren treten auf, brauche ich Statisten, brauche ich Autos etc. Ich arbeite also mit allem, was nicht im Drehbuch steht. Die Szenen schreibe ich dann kurz vor den Dreharbeiten, meist in letzter Minute, oft auch in Drehpausen. Eine sehr anarchische Arbeitsweise! Die Schauspieler bekommen die Texte meist handgeschrieben von mir: Die Dialoge entwickeln sich immer erst dann, wenn die Struktur und die Atmosphäre einer Szene klar sind. So habe ich die Dreharbeiten zu Jacquot gelegentlich unterbrochen, um nachzudenken, um das bereits gefilmte Material zu montieren. Der Arbeitsprozeß, den ich gern „cinécriture“ nenne, ist ein Ein- und Aussteigen, ich nehme mir Zeit zum Träumen und Reflektieren.
Hatte die Besetzung der drei verschiedenen Jacquot-Darsteller, drei verschiedener Temperamente, auch Einfluß auf die Dialoge?
Sicher. Bei der Auswahl legte ich Wert darauf, daß sie sich voneinander unterscheiden, denn aus ihren jeweiligen Eigenarten konstituierte sich Jacquot, sie entsprachen aber auch drei Aspekten des erwachsenen Jacques Demy. Der Kleinste ist ein sehr verträumtes Kind, er ist etwas naiv. Der zweite verkörpert den Eigensinn. Und der dritte, der Fünfzehn- bis Achtzehnjährige, ist der Romantiker, der die Einsamkeit sucht, der voller Leidenschaft steckt und die Geduld hat, zwei Jahre lang an seinem kurzen Trickfilm zu arbeiten.
Im erwachsenen Jacques trafen all diese Eigenschaften zusammen: Er war immer noch naiv, er war leidenschaftlich und eigensinnig, und er suchte auch die Einsamkeit — nicht in seiner Lebensweise, aber sie entsprach ein wenig seiner Natur.
Ich möchte Sie unbedingt noch zum Wechsel zwischen Schwarzweiß und Farbe in „Jacquot“ befragen: Zunächst ist die Farbe geknüpft an Momente des Schauspiels, später sind aber auch Szenen zwischen Jacquot und Reine, dem Nachbarmädchen, in Farbe gedreht.
Schwarzweiß habe ich ausgewählt, weil die Filme dieser Zeit schwarzweiß sind und das natürlich auch einen Einfluß auf unsere Vorstellungen von ihr hat. Da war es ganz normal, in Schwarzweiß zu drehen. Aber Momente wie Theateraufführungen, Puppenspiele, den Anblick von Filmplakaten wollte ich hervorheben. Als dann in einer späteren Szene das Nachbarmädchen, das schon etwas älter und reifer als er ist, Lippenstift aufträgt, da bin ich sicher, daß dieser Moment Jacquot ebenfalls farbig erschienen sein muß: Er hat ihn in Farbe erlebt. Die ganze Szene, der ganze Raum muß für ihn auf einmal in kräftige Farben getaucht gewesen sein, allein schon wegen des roten Lippenstifts. Ich folge nicht Theorien, ich vertraue vielmehr Wahrnehmungen und Empfindungen: Wie hätte ich in diesem Moment reagiert?
Ich möchte Sie aber auch etwas fragen. Ihre Fragen sind sehr ernsthaft und verständig: Journalistenfragen spiegeln ja meist deren Haltung zu einem Film wider. Aber ich habe keine Ahnung, ob Sie den Film mochten. Hat er Sie unterhalten? Hat er Sie zum Lachen gebracht? Für mich ist es wichtig, daß man bei dem Film lacht, denn ich denke, die Kindheitsszenen besitzen einen gewissen Charme, etwa die gewitzten Versuche des kleinen Jacquot, sein Ziel zu erreichen. Ein Moment, der mich und Jacques sehr amüsiert hat, ist die Szene, in der Reine ihm sagt, daß sie keine Lust hat, in seinem Film mitzuspielen: Von da an ist ihm klar, daß er fortan Trickfilme drehen will! Jeder Regisseur erlebt so etwas ständig: „Schauspielerinnen sind unmöglich! Ich wünschte, ich könnte auf sie verzichten!“
Also: Mochten Sie den Film, gibt es Szenen, die Ihnen ein besonderes Vergnügen bereitet haben?
Ich habe ihn gestern zum dritten Mal gesehen, ich mochte ihn sehr, ich mag seinen Erzählfluß.
Um so besser!
Besonders gerührt hat mich die Zärtlickeit, mit der Sie Jacques Demy in den Gegenwartsszenen gefilmt haben.
Zu allem, was Jacques im Jahr 1990 angeht, möchte ich nichts sagen. Ich werde Ihnen aber sagen, weshalb sich die Kamera ihm so sehr annähert, seine Haut, seine Haare im Detail aufnimmt. Obwohl das technisch sehr schwierig und kompliziert war, wir brauchten spezielle Objektive etc. Ich gebe Ihnen eine einfache Erklärung dieser Technik: Ich wollte ihm so nahe wie möglich sein.
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