piwik no script img

Streik im öffentlichen Dienst ist zu Ende

■ ÖTV empfiehlt ihren Mitgliedern die Annahme des Arbeitgeber-Angebots: 5,4 Prozent Lohnerhöhung und Festbeträge zwischen 600 und 750 Mark/ Heftige Debatten in der großen Tarifkommission

Stuttgart (dpa/ap/taz) — Der Streik im Öffentlichen Dienst ist, zumindest vorläufig, zu Ende. Nach heftigen Debatten in der großen Tarifkommission der ÖTV empfahl die Gewerkschaft ihren Mitgliedern, ein am späten Nachmittag vorgelegtes Angebot anzunehmen, das sich im Rahmen des ursprünglich von den Arbeitgebern abgelehnten Schlichterspruchs bewegt: Löhne und Gehälter der unteren und mittleren Gruppen sollen zum 1. Mai um 5,4 Prozent, die der höheren Einkommensgruppen erst zum 1. Juni um diesen Betrag angehoben werden.

Für die ersten vier Monate des Jahres soll der einfache und mittlere Dienst jeweils einen Einmalbetrag von 750 Mark bekommen. Für die gehobenen Gruppen liege der Betrag bei je 600 Mark. Der höhere Dienst geht beim Festbetrag leer aus. Das Urlaubsgeld soll für alle um 200 Mark angehoben werden.

Diesen Vorschlag legte ÖTV- Chefin Wulf-Mathies dann — entsprechend der Gewerkschafstregularien — der großen Tarifkommission zur Beratung vor. Sie war stundenlang und heftig: Vielen schien das nach elftägigem Streik nicht mehr genug. Doch schließlich empfahl man den Gewerkschaftsmitgliedern mit großer Mehrheit doch, in einer neuen Urabstimmung dieser Lohnerhöhung zuzustimmen.

Der Schlichterspruch hatte 5,4 Prozent Einkommenserhöhungen empfohlen. Neben einer linearen Lohnerhöhung sah er einen Einmalbetrag für die ersten drei Monate dieses Jahres in Höhe von jeweils 500 Mark vor. Außerdem wollten die Schlichter das Urlaubsgeld um 100 Mark sowie die Ausbildungsvergütungen um 150 Mark anheben.

Noch nie brauchten die Arbeitgeber von Bund, Ländern und Gemeinden so lange wie bei dieser Tarifrunde, um eine gemeinsame Marschrichtung festzulegen. Langjährige Beobachter der Stuttgarter Tarifszene stellten fest, daß die Arbeitgeber diesmal länger untereinander diskutierten und über „Lösungsmodelle“ stritten, als sie mit den Gewerkschaften verhandelten.

Die Streikaktionen im öffentlichen Dienst waren nach der nächtlichen Verhandlungsunterbrechung vorgestern nochmals hochgefahren worden. Zu den Arbeitsniederlegungen waren gestern über 435.000 Beschäftigte aufgerufen worden, die vor allem wieder den öffentlichen Personennahverkehr, Stadtverwaltungen, Landes- und Bundesbehörden, Kindergärten, die Müllabfuhr sowie die Versorgung in Krankenhäusern lahmlegten. Auch auf den meisten Flughäfen lief der Arbeitskampf weiter, so in Düsseldorf, Köln/Bonn und Hamburg. Auf den Flughäfen in Hannover und Nürnberg kam es zu Verzögerungen. Mitglieder der Deutschen Angestellten- Gewerkschaft (DAG) bestreikten Einrichtungen des Gesundheitswesens, Landesversicherungsanstalten und Sparkassen.

Die Deutsche Postgewerkschaft meldete Streiks in 161 Ämtern. Seit Beginn des Arbeitskampfes blieben rund 50 Millionen Briefe und Päckchen liegen. Angeblich wird auch der in Münster geplante West-Ost-Wirtschaftsgipfel von Donnerstag abend bis Samstag nicht unbehelligt bleiben. Durch Arbeitsniederlegungen bei der Telekom sollen die Tagungs- Telefone mattgesetzt werden. In der Telefonzentrale des Bundestages in Bonn ließen sich Polizisten als Streikbrecher einsetzen.

Nach Angaben der Eisenbahner- Gewerkschaft legten gestern 25.000 Bahnbeschäftigte vor allem in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Frankfurt und München die Arbeit nieder. Im S-Bahn-Verkehr in Nordrhein- Westfalen lief gar nichts mehr. Intercity-Züge fielen ganz aus oder fuhren nur noch im Zwei-Stunden-Takt.

Während des Arbeitskampfes haben die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes nach eigenen Angaben Zehntausende neuer Mitglieder gewonnen. Allein die ÖTV, mit bundesweit 2,1 Millionen Mitgliedern größte Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, zählte über 50.000 Aufnahmeanträge. Die Zahl der im öffentlichen Dienst beschäftigten DAG-Mitglieder stieg um 2.500 auf rund 133.000. Auch die DPG (610.000 Mitglieder) und die GdED (513.000 Mitglieder bei Bundes- und Reichsbahn) meldeten mehrere tausend Neuaufnahmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen