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Wo die „economia sommersa“ wuchert

In Italien fällt bald die Hälfte aller Tätigkeiten in den ausufernden Bereich der Schattenwirtschaft  ■ Aus Rom Werner Raith

Holzhändler Silvio gibt sich alle Mühe, dem begriffstutzigen Deutschen die Sachlage darzulegen: „Die 300 Latten für Ihren Zaun kosten knapp eine halbe Million Lire. Auf der Rechnung steht nur die Hälfte, damit wir die Hälfte der Mehrwertsteuer sparen.“ Ich aber möchte die Rechnung über den vollen Betrag von der Steuer absetzen. Kein Problem, versichert Silvio, Rechnungen für das Finanzamt kann er mir reihenweise verschaffen: „Gut zwei Drittel meiner Kunden zahlt sowieso mit Geld, das sie unangemeldet verdient haben, die brauchen keine formelle Rechnung.“

Dennoch wäre mir die korrekte Rechnung irgendwie lieber. Silvio kratzt sich hinter dem Ohr: „Das geht leider überhaupt nicht.“ Denn: der Holzhändler hat, wie sich herausstellt, die Fuhre gar nicht auf eigene Rechnung gebracht, sondern auf die seines Bruders. Der aber ist wiederum nur im Nebenerwerb Holzhändler und ansonsten Bauer — so darf er bestimmte Höchstbeträge beim Holz nicht überschreiten, da sonst die Neben- zur Haupttätigkeit wird und damit die lukrativen Zuschüsse futsch sind. Daß der Lieferer selbst keine Rechnung schreiben kann, hängt wiederum damit zusammen, daß er derzeit offiziell gar nicht arbeitet. Die Aludosenfirma, in der er beschäftigt war, mußte entlassen, und so ist er derzeit in der sogenannten „cassa integrazione“, einer Art Warteschleife, in der er 60Prozent seines Gehalts dafür bekommt, daß er sich für eine eventuelle Wiedereinstellung in seiner alten Firma bereithält.

„Meine Güte“, sagt Silvio dazu, „wenn sich bei uns jeder an die Vorschriften halten würde, wäre nicht nur ich pleite, sondern auch ein gutes Dutzend Hilfsarbeiter um Brot und Auskommen gebracht.“ Silvio selbst könnte bei einigermaßen korrekter Buchhaltung und ohne schwarze Lieferungen weder sein Reitpferd noch das eben erstandene und auf seine Mutter eingetragene Zweit-Haus halten. Schummeln ist eben klassenneutral.

Die Episode hat repräsentativen Charakter: Italiens „economia sommersa“, die sogenannte Schattenwirtschaft, hat in den letzten beiden Jahrzehnten Ausmaße erreicht, daß nach den Untersuchungen einiger Wirtschaftsforschungsinstitute der Tag nicht mehr fern ist, wo „mehr schwarz produziert und vertrieben wird, als legal hergestellt und verkauft“ ('L'Espresso‘).

Natürlich hängen die Schätzungen über den Umfang der Schattenwirtschaft stark davon ab, was man unter „economia sommersa“ versteht. Der Politologe Donato Tangredi hat ein gutes Dutzend in- und ausländischer Definitionen aufgelistet: Sie reichen von illegalen bis kriminellen Tätigkeiten wie Schmuggel oder Menschenhandel über die Beschäftigung ohne Versicherung und Steuerabgaben, unerlaubte Nebentätigkeiten, Herstellung von Produkten außerhalb vorgeschriebener Richtlinien bis zur Ausführung von Facharbeiten durch Nicht-Facharbeiter, etwa Installationen oder Bauarbeiten, die nicht von angemeldeten Firmen getätigt werden. Die umfassendste Definition aber bringt in dem Begriff schlichtweg alles unter, was nicht in den offiziellen Daten des Bruttosozialprodukts erfaßt werden kann. Wie auch immer, die Schattenwirtschaft nimmt enorm zu. Von gerade sechs bis zehn Prozent Mitte der 50er Jahre ist sie auf mehr als ein Drittel der nationalen Produktion und Dienstleistungen gestiegen. Der scheidende Finanzminister Rino Formica hat seinem Nachfolger ganz oben auf die Liste vordringlicher Aufgaben das Wort „economia sommersa“ hingemalt: „Wenn wir nur einen Teil der Parallelwirtschaft in legale Bahnen leiten, wäre unser Haushaltsdefizit schnell gestopft“, meint er. Doch so einfach ist die Sache wohl nicht, auch Formica weiß das. Zu viele Fäden sind ineinander verwoben, um das Gewirr aus staatlicher Konfusität, individuellem Mißtrauen in die Vorsorgeeinrichtungen und glattem Aufstand gegen alle staatlichen Normen mit einem Schlag auflösen zu können.

So lastet etwa auf dem italienischen Normalbürger die europaweit massivste Abgabenlast: Sie erreicht bis zu 70Prozent — und dies bei einem Durchschnittseinkommen, das mit 1.800 Mark brutto weit unter dem Mittel aller anderen industrialisierten Staaten liegt. Da bei dieser Lage niemand die verlangten Abgaben bezahlen kann, ohne seine Existenz und meist auch die seiner Familie zu gefährden, hinterzieht man, so gut es geht. Hinzu kommt das in Italien besonders ausgeprägte Mißtrauen jenen gegenüber, die die Steuern einziehen.

Bei den Arbeitern wird Versicherung und Steuer bereits vom Lohn abgezapft. Mitte der achtziger Jahre streikten die Beschäftigten aller Sparten, weil sie sich gegenüber den beim Hinterziehen von Abgaben privilegierten Kaufleuten, Steuerberatern, Ärzten und Künstlern benachteiligt fühlten — allerdings verschwiegen sie dabei vornehm, daß auch sie meist einen geschminkten Vertrag abschließen, dessen nominelle Lohnsumme weit unter dem real empfangenen Salär liegt, eben um Steuern und Abgaben zu sparen.

Die Regierung beschloß, auf die Forderung nach Gleichbehandlung aufzuspringen, schon allein, um das eigene Haushaltsloch zu stopfen. Seither müssen alle Selbständigen für ihre Verkäufe und Dienstleistungen „scontri fiscali“ oder „fatture“ abgeben: Zahlungsbelege, die der Kunde auch außerhalb des Geschäftes aufbewahren und kontrollierenden Steuerbeamten vorweisen muß — sonst setzt es Strafen bis zu einer halben Million Lire. Die Aktion erwies sich allerdings teilweise als Flop: Die Kleinhändler fragten, woher sie das Geld für die vorgeschriebenen Registrierkassen nehmen sollten. Da gab die Regierung nach, schließlich standen Neuwahlen bevor. Das machten sich flugs auch viele nicht so kleine Lebensmittelgeschäfte zunutze: Reihenweise stellten sie ihren offiziellen Betrieb ein, um danach die Oma an den Straßenrand zu setzen und dort Brot und Orangen als „Kleinsthändler“ zu verhökern. Wo die Finanzbeamten mal durchgriffen, kam es bald zum Eklat: wütende Hausfrauen, denen Kontrolleure den Bon abverlangten, riefen die Carabinieri wegen unsittlicher Belästigung zu Hilfe, mitunter machten Kinder von sieben, acht Jahren Schlagzeilen, denen die wackeren Kontrolleure Strafen von bis zu 40.000 Lire aufgebrummt hatten, weil sie keinen Bon hatten.

Seither haben die Händler wieder mehr Ruhe. Selbst die Kinderarbeit ist wieder im Vormarsch: In den Restaurants schuftet der Besitzer- Nachwuchs schon mit sieben oder acht Jahren, die Straßenkreuzungen sind voll von Zehn- bis Zwölfjährigen, die Zigaretten, Feuerzeuge, Taschentücher oder Sonnenblenden fürs Auto anbieten. Die Polizei sieht selbst dann weg, wenn die Kleinen während der Schulstunden herumstehen. „Besser, sie stehen da, als sie greifen in die Taschen der Passanten“, sagt resignierend der stellvertretende Polizeichef von Neapel.

Schattenwirtschaft wohin man blickt: der Postbote, der neben Silvios Geschäft nebenbei als Tankwart arbeitet, der Polizist, der in seinem Schreibtisch eine komplette Kollektion Parfüms zum Verkauf anbietet, der mehrmals vorbestrafte Giovanni gleich neben der Carabinieri-Station, der mit einer ausgewählten Crew von 20 Leuten in einer einzigen Nacht dort einen Rohbau erstellt, wo Bauen eigentlich verboten ist. Nur noch 15Prozent der Italiener sind ohne Zweit-Job, doch nur die Hälfte davon meldet ihn auch der Steuer.

Viele Nationalökonomen sehen in der Schattenökonomie allerdings längst kein Übel mehr: „Ohne die ,economia sommersa‘, so stellte der amerikanische Italienexperte Martini in einer der ersten empirischen Arbeiten zum Thema fest, „wäre das Land in der Wirtschaftskrise Mitte der 70er Jahren abgestürzt.“ Und viele, wie der Politologe Tangredi, fragen sich sowieso, ob angesichts der sich fortschreitend verschlechternden Arbeitsbedingungen in Europa die italienische Schattenwirtschaft nicht nur der Vorreiter ganz ähnlicher Entwicklungen auch in anderen Ländern ist.

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