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Rückwärts verbrennende Bibel

■ Laurie Anderson mit Merksätzen und Anekdötchen im Hebbel-Theater

Laurie Anderson ist eine Reisende. Laurie Anderson ist Amerikanerin. »Mein Leben ist es, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen.« Mit ihren offenen, vom vielen Schauen vielleicht schon geröteten Augen, hat sie auch den Golfkrieg erlebt.

Sie saß wieder einmal mit ihren Koffern voller Elektronik auf einem dieser »wundervollen« Flughäfen. Den verstärkten Sicherheitskräften fielen die herrenlosen Kisten auf. Frau Anderson mußte sie öffnen und ein kleines Konzert geben, um zu beweisen, daß die Kabel nicht zu einer Bombe, sondern zu einem Keyboard gehören.

Diese kleine Anekdote erzählt sie in ihrer neuen Konzertproduktion, die man profan als Ton-Dia-Show oder, aufgeblasen, als Performance bezeichnen könnte. Anderson berichtet im Hebbel-Theater aber nicht nur von der Airport-Episode. Nein, sie ist ernsthaft besorgt um den Zustand ihrer Nation. »260 Millionen Amerikaner besitzen 200 Millionen Waffen.« Das ist schlimm. Das ist so schlimm, daß sie den Satz nicht nur auf der Bühne sagen muß, er steht obendrein als Merksatz auf der Dia- Leinwand, und wer ihn sich trotzdem nicht merken kann, mag ihn zu Hause in Ruhe noch einmal im Programmheft nachlesen und bei einem guten Glas Rotwein darüber nachdenken.

Hat Laurie Anderson eine Botschaft? »Es gibt die Theorie, daß Terroristen die einzigen wirklichen Künstler sind. Sie sind die einzigen, die wirklich etwas verändern. Das muß doch ein Schock sein für die Künstler hier, und darüber müssen sie nachdenken, bevor sie sich für Entertainment entscheiden.«

Laurie Anderson scheint sich damals am Flughafen gegen den Terrorismus entschieden zu haben. Dabei wäre sie sicherlich eine gute Terroristin geworden. Sie hat sich aber auch teilweise gegen die Musik entschieden. In den USA unternahm sie im letzten Jahr eine Vorlesungsreise durch die Hörsäle der Universitäten, hielt über 20 Reden. Ohne Musik und Videos, wie sie betont. Ihre jetzige Produktion, Halcion Days. Stories from the Nerve Bible, hatte ihre Uraufführung bei der Expo '92 im spanischen Sevilla.

Wir erleben eine Vorlesungs-Performance: Die Bühne wird beherrscht von drei verschiedenen Leinwänden, die eine kugelförmig, die zweite wie eine Litfaßsäule und im Hintergrund eine plane Kinoleinwand. Flammen lodern auf, eine Bibel verbrennt. Aber alles passiert rückwärts. Aus den Flammen entsteht die Bibel. Die kleine Frau Anderson mit den Wuschelhaaren betritt die Bühne.

Ihr Körper verkabelt. Jede Bewegung ein Ton. Streckt sie den Arm, so knarrt es im Gebälk, ballt sie die Faust, quietschen Reifen. Auch der Vocoder zur Sprachverzerrung hat noch nicht völlig ausgedient. Ihre Stimme dunkel wie ein Bass im verrußten Ofenrohr, verfremdet wie von einer fernen Radiostation empfangen. Alles nichts Neues, seit sie 1980 mit O Superman auf der Bildschirmfläche erschien und unverhofft die Charts stürmte.

Heute benutzt sie die Soundbasteleien nur noch nebenbei. Im Mittelpunkt stehen ihre Anekdoten, manchmal auf deutsch, in denen sie versucht, persönliche Erlebnisse mit dem Lauf der Welt zu verknüpfen. Sie schreitet die Bühne hin und her wie ein Tiger im Käfig. Erzählt von Präsident Bush, von den Ausschreitungen in Kalifornien, vom Dalai Lama, von der Herrschaft der Männer, die alle Erfindungen für sich reklamieren, von den Grundrechten in Amerika usw. usf.

Dazu serviert sie Bilder vom Golfkrieg, immer wieder die Kamera der Bombe, die auf den Bunker zufliegt, dann verwackelt das Bild. Die Kamerabombe ist explodiert. Die Bilder sind hübscher geschnitten und gemischt als auf CNN, aber es sind die Bilder, die jeder kennt. Zwischendurch Videofilme von Festnahmen durch Polizeibeamte in den USA. Merkwürdigerweise erschüttern diese mehr als die Bilder vom Golf. Weil hier Menschen zu sehen sind, denen etwas angetan wird. Insgesamt bleibt der Eindruck, Anderson versammelt Versatzstücke der Realität, denen sie verzweifelt versucht ihre Banalität zu nehmen. In der Erinnerung bleibt das Banale.

Es gibt einen Moment, der schön ist: Laurie Anderson spricht durch eine Marionette, diese spielt für sie die Geige von früher. Als die Marionette nicht mehr weiter weiß in ihrer Rede, versteckt sie sich bei Laurie, und die beiden unterhalten sich unhörbar. Andreas Becker

Weitere Aufführungen von Halcion Days · Stories from the Nerve Bible täglich noch bis Mittwoch, jeweils um 20 Uhr im Hebbel-Theater

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