: „Olympianer“ im Äther
In Wilhelmshaven wurden aus AEG-Arbeitern Funkpiraten ■ Von Peter Vogel
Für den medienpolitischen Sprecher der Grünen im niedersächsischen Landtag, Erich von Hofe, ist das Ganze eine „Hexenjagd“. „Während der Stadt Wilhelmshaven Massenarbeitslosigkeit droht, so meint der Abgeordnete, „haben Post und Polizei nichts Besseres zu tun, als einen kleinen Piratensender zu verfolgen, der auf die Ängste und Sorgen der Arbeiter und Angestellten von AEG-Olympia aufmerksam machen will.“ Die „Olympianer“, wie sich die mehr als 2.000 Beschäftigten des Schreibmaschinenwerkes in Roffhausen bei Wilhelmshaven selbstbewußt nennen, plagen in der Tat handfeste Existenzsorgen. Ende des Jahres soll das Werk auf Beschluß des Daimler-Benz-Aufsichtsrats geschlossen werden. Zulieferbetrieben und anderen Unternehmen der Region, darunter auch Krupp Industrietechnik, droht das gleiche Schicksal. Zudem werden in Wilhelmshaven stationierte Verbände der Bundesmarine verkleinert — Ende des Jahres wird es wohl in jeder zweiten Wilhelmshavener Familie einen Arbeitslosen geben.
Vor dem Hintergrund dieser sozialen Katastrophe gründeten Olympia-Beschäftigte und Mitarbeiter anderer Betriebe den Piratensender „Radio Überleben“, der seit dem 22.April jeden Mittwoch ab 17.15 Uhr auf der Frequenz 100,4 Megahertz illegal auf Sendung geht und Informationen zu arbeitsmarktpolitischen Themen der Region verbreitet. Prominentester Interviewpartner zur Premierensendung war — ungefragt — Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD). Er hatte einer Betriebszeitung ein Interview in Sachen AEG-Olympia gegeben und das Tonband war später auch bei „Radio Überleben“ gelandet. Nun ermittelt die Polizei gegen eine Mitarbeiterin der von ArbeiterInnen gemachten Zeitung.
Die Funkpiraten klärten die Bevölkerung inzwischen in einem Flugblatt über ihre Absichten auf. Schwarzsenden sei für sie das kleinere Übel angesichts der Tatsache, daß Ende des Jahres die meisten von ihnen künftig auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe angewiesen sein würden. Gleichzeitig baten sie die Bevölkerung darum, „uns dabei zu helfen, daß unsere Stadt und die Jade- Region nicht zum Armenhaus werden“. Post und Kriminalpolizei in Wilhelmshaven arbeiten inzwischen Hand in Hand, um den illegalen Sender zum Schweigen zu bringen. Als die Schwarzfunker am 29.April zum zweiten Mal auf Sendung gingen, war ein Peilkommando der Post in Wilhelmshaven unterwegs, das nach 15 Minuten Sendung das Künstler- und Kulturzentrum „Perspektive“ stürmte, um den vermeintlichen Sender auszuheben. Dabei wurde der Dachboden des Hauses durchsucht, „ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluß“, wie die Schwarzfunker gegenüber der Presse erklärten. Doch der Erfolg der Aktion war mehr als spärlich: Außer zwei Elektrokabeln wurde von der Polizei nichts sichergestellt. AEG-Olympia-Betriebsratsmitglied Ronald Smolawa zur hartnäckigen Verfolgung des Arbeitersenders: „Ganz eindeutig handelt es sich um einen politischen Sender. Wenn es nur um Musikbeiträge ginge, würde die Polizei nicht halb soviel Energie investieren.“
Im benachbarten Ostfriesland, wo das Schwarzfunken seit Jahren zum guten Ton in einheimischen Familien gehört und auf dem platten Lande stets bis zu 40 kleinere Piratensender allabendlich in den Äther funken, verfolgt man den Kampf der Olympianer mit Sympathie. „Wenn Polizei und Post nicht aufhören, ,Radio Überleben‘ zu drangsalieren“, so verriet ein ostfriesischer Funkpirat, „dann werden wir uns demnächst an einigen Aktionen der Wilhelmshavener beteiligen.“
Auch die im vergangenen Jahr landesweit gegründete „Interessengemeinschaft gemeinnütziger Hörfunk Niedersachsen“ (INGEHN), die die Einrichtung von bürgernahen Lokalsendern in Niedersachsen forciert, ist solidarisch. Denn die Fraktionen von SPD und Grünen im Landtag haben zwar die Einrichtung von werbefreien lokalen Radiostationen vereinbart, doch seit Wochen streitet man sich in den Fraktionen und mit inzwischen 14 Lokalfunk- Initiativen um den richtigen Weg der Finanzierung. INGEHN-Sprecher Thomas Muntschick: „Die Ereignisse in Wilhelmshaven zeigen, daß die Einrichtung von Sendern, die die Hand am Puls der Bürger haben, ein ernsthaftes Anliegen ist.“
In ähnlichem Sinne äußert sich auch der grüne Mediensprecher Erich von Hofe. Er fordert eine Legalisierung von Sendern wie „Radio Überleben“ und verspricht, daß die Fraktionschefin der Grünen im Landtag, Thea Duckert, dem Schwarzsender demonstrativ ein Interview geben wird. Die Funkpiraten haben daraus ein Konzept entwickelt: Künftig soll mindestens einmal in der Woche ein Prominenter aus Politik, Wirtschaft und Kultur möglichst live zu Wort kommen, „damit die Polizei eines Tages gegen das halbe Parlament ermitteln muß“.
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