Noch ein Licht in Platons Höhle

■ Fotografie ohne Kamera: Marc André Ginetta in der Galerie A & T

Die Fotografie hat die Malerei ein zweites Mal eingeholt. War es ihr zuerst gelungen, die Wirklichkeit nahezu in Übereinstimmung mit dem Abbild zu übertragen, so versteht sie sich mittlerweile ebenfalls als abstrahierendes Medium. Oder sie widmet sich der Umsetzung gestisch-expressiver Gestaltungsprinzipien. Zum Raum wird hier die Zeit, wenn man schon die seltsamen Lichtschichtungen eines William Fox Talbot betrachtet. Was an frühen Aufnahmen noch ungeschickt »verwackelt« erschien, ist längst ein trickreiches Stilmittel geworden, das erlaubt, die fotochemische Exaktheit des Belichtens gegen das Licht auszuspielen, das sich eigentlich relativ unbegrenzt um seine Quelle herum auszubreiten pflegt. Das Experimentieren findet in der Fotokunst als Emanzipation gegenüber der Apparatur statt. Meist behält die Kamera jedoch Oberhand über die Phantasien der Bildner.

Die Arbeiten des Schweizers Marc-André Gentinetta entstehen teilweise vollständig außerhalb des Fotoapparates. Nur die Reaktion des chemischen Papiers wird ausgenutzt und macht Licht und Schatten zum Transportmittel des Gegenstandes, der sich an ihren Schnittpunkten als Umrißzeichnung einstellt.

Mit dieser sehr archaisch anmutenden Produktionsweise fühlt man sich beinahe in Platons Höhle zurückversetzt, in der die Sklaven vom Schein der Schattenbildwelt abhängig bleiben, ohne, der platonischen Technik folgend, an das wahre Licht der Vernunft zu streben. Auch Gentinetta bleibt der mythisch-vormodernen Sicht verhaftet. Sein Modell muß über eine Minute starr in Position bleiben, während er den Körper mit einer Taschenlampe ableuchtet. Die verdeckten Stellen auf dem Fotopapier bleiben weiß, der angestrahlte Rest verdunkelt sich amorph, die Ränder geben den Umriß der Gestalt als Scherenschnitt wieder.

Doch das Licht ist nur ein erster Baustein, eine Skizze, die mit der Entwicklerflüssigkeit Leben erhält. Durch Zink- und Kupferzusätze verfärbt sich das Papier im nächsten Schritt zu nuancierten Brauntönen. Das ursprüngliche Abbild wird mit chemischen Reaktionen übermalt.

Dann wiederum benutzt Gentinetta auch ganz traditionelle Labortechnik und bezieht Negativfilme mit ein, die als weitere Ebene der Montage einen Hauch von Realismus andeuten. Am Ende stellt sich eine fast kubistische Raumillusion her, die jedoch ganz und gar in der planen Oberfläche des Papiers ruht. Die Fotografien wirken darin halb transparent und gleichzeitig in der Schwebe zur Gegenständlichkeit.

Die Verdeutlichung der Abkehr von gewöhnlichen Produktionsverfahren verlangt einfache Darstellungen. Nur schrittweise begeht der Künstler Neuland, und bildet nur menschliche Gestalten oder einfaches Hausgerät ab, die man trotz der polymorphen Chemoschichten noch entschlüsseln kann. Auf Kleinformaten hat Gentinetta allerdings auch klassische Porträt- und Aktfotografien ausgestellt. Sie bezeugen im Gegensatz zu den experimentellen Versuchen eine gewisse Statik. Erst in der direkten Konfrontation von Licht und Schatten kann so etwas wie plastische Dimension entstehen. Ohne Kamera entwickelt das Fotomaterial paradoxerweise genau dort Dynamik, wo es in der bis zu anderthalbminütigen Belichtungszeit extreme Konzentration und Unbeweglichkeit von dem Modell verlangt.

Die herkömmlich produzierten Bilder müssen dagegen ein anderes Medium für den Eindruck einer Bewegung bemühen. Das Fotogramm »Lust« zeigt als Collage vier Schnappschüsse aus einem kleinen Erotikfilm, der im Fernsehen lief — Ausschnitte aus einer Minute Abspieldauer mit 24 Bildern.

Nur: Vor dieser Verwechslung des Bildes mit seiner Idee hatte Platon eigentlich warnen wollen. Herbert Fricke

Marc André Ginetta, Photographien, bis zum 28. Mai in der Galerie A&T, Wallstraße 60, S-Bahnhof Jannowitzbrücke