: Wider den neuen Positivismus
Die Erfahrungen mit dem juristischen Umgang der NS-Verbrechen können heute nicht als Argument gegen eine Bewältigung des SED-Staates per Strafverfahren sprechen ■ VON HELGA WULLWEBER
Ehrenwerte Juristen, die jahrzehntelang die Untätigkeit der Justiz bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit kritisiert haben, plädieren heute wider die Bewältigung des SED-Staates per Strafverfahren. Die Strafbarkeit der Todesschüsse oder der Splitterminen-Selbstschußanlagen an der Grenze sei eine Fiktion, die sich weit von der Wahrheit entferne, sagen sie.
Im SED-Staat wäre niemand im Traum auf den Gedanken gekommen, die Schreibtischbonzen dafür strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Die Todesschüsse an der Grenze hätten gar als vaterländische Pflicht gegolten.
Ihr Anliegen ist wichtig: simplen Schuldzuweisungen in Strafverfahren gegen einzelne Personen und ungerechten Verurteilungen aufgrund von Maßstäben, die in der DDR nicht galten, wie auch dem zweierlei Maß der Justiz für NS- und SED-Täter, zu widersprechen. Dennoch ist es die falsche Antwort auf den moralisierenden Umgang mit der Geschichte, der von den Bedingungen und dem — falschen oder lückenhaften — Bewußtsein der Akteure über die Bedingungen, unter denen die Akteure handelten, absieht, wenn nur auf das Rechtsverständnis der Machthabenden abgehoben wird und die Bedeutung der anerkannten Menschenrechte, auf die Verfassung und Strafgesetzbuch der DDR Bezug nahmen, für die Beurteilung des Handelns der Akteure geleugnet wird.
Nullum crimen sine lege
1.Die Rechtsstaatsidee wird verkannt, wenn nur auf die Rechtspraxis der DDR abgehoben wird.
Wegen des Grundsatzes nullum crimen sine lege ist eine Strafverfolgung von in der DDR von DDR-Bürgern begangenen Straftaten heute nur möglich, wenn die Tat sowohl nach DDR-Recht strafbar war als auch nach heutigem BRD-Recht strafbar ist. Strittig ist die Rechtslage bei Rechtsgutverletzungen, die zwar durch Vorschriften der DDR mit Strafe bedroht waren, bei denen aber die Behörden der DDR für sich in Anspruch nahmen, zu ihrer Übertretung berechtigt zu sein — ein Problem, das sich unter anderem bei den Selbstschuß-Anlagen an der Grenze und den Schüssen auf Fliehende stellt. Aufgrund der Paragraphen 95, 258 Strafgesetzbuch DDR wären zum Beispiel die Todesschüsse nur erlaubt gewesen, wenn der Schießbefehl nicht offensichtlich völkerrechtlich anerkannte Menschenrechte mißachtet hätte. Das Grenzgesetz erlaubte zwar, auf Flüchtlinge zu schießen, die sich nichts weiter hatten zuschulden kommen lassen als den Versuch, die DDR zu verlassen. Da es keine freien Grenzübergänge gab, verletzten die Ausreiseregelungen der DDR und die Todesschüsse an der Mauer aber offensichtlich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und im Zivilpakt von 1966 anerkannte Normen des Völkerrechts: das Recht auf Leben, das Recht auf ein öffentliches und faires Verfahren und das Recht eines jeden Menschen, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.
Nun wird argumentiert, in der DDR habe gegolten, daß das Ausreiseverbot und der Schießbefehl weder gegen Menschenrechte noch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstießen und deshalb die zuständigen Organe nicht berechtigt waren, Befehle nicht auszuführen. Vom Standpunkt eines wohlverstandenen, guten Gesetzespositivismus dürften niemandem nachträglich unsichere überpositive Orientierungen zugemutet werden. Der nulla-poena-sine-lege-Satz beinhalte, daß eine Rechtsnorm wirklich gegolten habe und verbiete es, die Geltung eines Rechtssatzes in die Vergangenheit hineinzufingieren. Das ist nicht richtig: Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot verbietet es, eine Tat zu bestrafen, deren Strafbarkeit zuvor nicht gesetzlich bestimmt war. Es bezieht sich auf die Normativität und nicht auf die Realität der Rechtsordnung. Wird der gesetzeswidrigen Rechtspraxis der DDR- Machthaber Normqualität beigemessen, dann wird ein autoritärer Positivismus praktiziert, den der ehemalige Bundesverfassungsrichter Simon als schlampigen Umgang mit der Rechtsstaatsidee kritisierte.
Menschenrechtsstandard
2.Die Freistellung der DDR- Rechtsordnung von den anerkannten Menschenrechten ignoriert den in den letzten 50 Jahren erreichten Menschenrechtsstandard.
Unrichtig ist auch, daß, werden die Verweise der DDR-Rechtsordnung auf die Menschenrechte ernst genommen, dies bedeutet, das Rechtssystem der DDR sozusagen von allen nach unserem Verständnis rechtsstaatswidrigen Elementen zu befreien. Die Paragraphen 95 und 258 StGB DDR, die geboten zu prüfen, ob ein Gesetz, eine Anweisung oder ein Befehl Menschenrechte oder Völkerrecht mißachtete, waren Bestandteil der Rechtsordnung der DDR. Es geht also nicht um die Problematik überpositives contra gesetztes Recht. Es geht vielmehr um die schlichte Rechtsfrage, welchen Stellenwert die international anerkannten Menschenrechte für die innerstaatliche Rechtsordnung dann haben, wenn diese explizit auf die Menschenrechte Bezug nimmt.
Durch die von den Vereinten Nationen, zu denen auch die DDR gehörte, verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurden erstmals über allen Gesetzen stehende Menschenrechte, die bis dahin nur als Naturrecht galten, kodifiziert, das heißt zu positiven, internationalen Normen gemacht. Darauf bezieht sich auch die DDR in ihrer Verfassung und ihrem Strafgesetzbuch. Durch den Zivilpakt von 1966, von der DDR bereits 1973 unterzeichnet und seit 1976 in Kraft, wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte rechtlich verpflichtend fortentwickelt. Darauf, daß der Zivilpakt nicht innerstaatliches DDR-Recht war, weil nur Honecker als Staatsratsvorsitzender den Pakt im November 1973 ratifizierte, kommt es nicht an. Verfassung und Strafgesetzbuch der DDR nahmen explizit auf die anerkannten Menschenrechte Bezug, ohne deren Geltung für die DDR von ihrer innerstaatlichen Transformation abhängig zu machen.
Der von der DDR anerkannte Menschenrechtsstandard ergibt sich ferner aus der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vom 1.August 1975. Viele DDR-BürgerInnen beriefen sich gegenüber den staatlichen Instanzen auf die Schlußakte von Helsinki. Dies zeigt die Bedeutung, die die Menschenrechte und die Möglichkeit der Berufung auf unverbrüchliche Menschenrechte für den Widerstand gegen Menschen vernutzende Regime und Politiken und für deren Überwindung und Veränderung haben. Der Menschenrechtsbewegung der vergangenen 50 Jahre und den inzwischen kodifizierten Menschenrechten wird ihre Bedeutung genommen, wenn sie dann nicht gelten sollen, ihre Geltung eine Fiktion wäre, wenn die Politik der Machthabenden sie permanent mißachtet.
Januskopf DDR
3.Die Verhältnisse in der DDR werden simplifiziert, wenn nur auf die politische Realität der DDR und nicht auf die Normativität ihrer Rechtsordnung abgestellt wird.
Dadurch entsteht ein die Realitäten der DDR verfehlendes Bild. In den geschichtlichen Kontext der Umstände, unter denen die DDR- Bürger handelten, gehört das Gebot der Paragraphen 95, 258 StGB DDR, die Übereinstimmung von Gesetzen, Befehlen oder Anweisungen mit Menschenrechten und völkerrechtlichen Pflichten zu prüfen. Diese Bezugnahme in der Verfassung auf die Menschenrechte und die weitere Bezugnahme im Strafgesetzbuch beleuchtet das Selbstverständnis der DDR, an dem sie bis zu ihrem Ende festhielt, der bessere deutsche Staat zu sein, der die Lehren aus der deutschen Geschichte gezogen hat, der antifaschistische Staat, der Ernst damit machte, die Menschen in den Mittelpunkt staatlicher Politik zu stellen, der den Traum von einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung und Klassenherrschaft mit gleichen Rechten und Chancen für alle verwirklichte. Dieses Pathos des besseren Staates, fundiert durch die Aura des Antifaschismus, längst zum den Blick auf die Realitäten verstellenden Wahn geworden, war nicht nur für das Selbstverständnis der DDR- Bürger von Bedeutung, sondern ließ auch die westdeutsche Linke, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaße, die DDR verteidigen und offenbare Fehlentwicklungen tolerieren. Wobei der DDR unter anderem die soviel schwierigere wirtschaftliche Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg und die Bedrohung im Kalten Krieg zugute gehalten wurde.
Die DDR war jedoch janusköpfig, einerseits Menschenrechte für die Unterdrückten und Verfolgten dieser Erde einklagend, Solidarität für Flüchtlinge auch praktizierend, andererseits die Menschenrechte der widerstrebenden DDR-BürgerInnen mißachtend. Der SED-Sozialismus operierte mit den großen Menschheitssehnsüchten und trieb zugleich mit ihnen Schindluder (Schorlemmer). „Sie haben den Sinn der Worte verkehrt, doch haben sie die Worte behalten, so daß die verstummen müssen, in denen ihr wahrer Sinn lebt“ (Manes Sperber: Eine Träne im Ozean). Das Rad der Geschichte wird zurückgedreht, wenn die Sinnverkehrung und Sinnentleerung der Worte in der DDR nachträglich mit rechtlichen Weihen versehen wird.
Der subjektive Faktor
4.Mit der Abwehr gegen die Individualisierung der Vergangenheit wird in die ausgetretenen Fußstapfen der abgetretenen DDR getreten.
Für die realsozialistischen Gesellschaften ist vor allem der Verlust an humaner Orientierung, die Vernichtung des Selbstbewußtseins der BürgerInnen und ihrer persönlichen Verantwortung beklagt worden. Ralph Giordano hat recht: „Die Deutschen müssen erst noch lernen, daß sie sich nicht nur für ihre Befehle, sondern auch für ihren Gehorsam verantworten müssen!“ Da den DDR-Gesetzen die Frage nach der individuellen Verantwortung nicht fremd war, kann diese Frage im nachhinein nicht als Siegerjustiz abgelehnt werden. Im Unterschied zur Entmündigung der BürgerInnen in der DDR muß es unser Anliegen sein, Entscheidungen und Schicksalen nachzuspüren, Geschichte als die Summe der Leben der einzelnen Individuen, ihrer genutzten oder verpaßten Handlungschancen zu verstehen, also Vergangenheit, allerdings unter Beachtung des geschichtlichen Kontextes, ohne individuelles Fehlverhalten aus der Geschichte herauszuisolieren. Dazu gehört, zu prüfen, welcher Kenntnisstand und welcher Handlungsspielraum gegeben war und ob ein solcher verschuldet oder unverschuldet nicht genutzt wurde. Der Einwand, daß die strafrechtliche Verfolgung die Chancen authentischer Wahrheitsfindung und geschichtlicher Aufarbeitung verhindere, weil sie mutmaßlichen Tätern oder Täterinnen den Mund verschließen würde, verkennt zum einen die ebenfalls zum Verschweigen motivierende Furcht vor beruflichen Nachteilen. Zum anderen übersieht er, daß zur Wahrheitsfindung der subjektive Faktor gehört. Dazu, die einzelne Person und ihre Verantwortung ernst zu nehmen, gehört, daß sie sich rechtfertigen und auch entschuldigen können muß für das, was sie tat, und sie nicht als Rädchen im System entindividualisiert wird.
Gnade vor Recht?
5.Die facettenreiche Linke mag derzeit einer „edlen, kritischen Resignation gegenüber der ohne Unwahrhaftigkeit oder Selbsttäuschung nicht durchzuhaltenden Vermittlung von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert“ zuneigen, die — so der Rechtsgelehrte Wieacker — dem rechtswissenschaftlichen Positivismus eignet.
Nur, wir befinden uns nicht mehr im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als noch um die Inhalte eines verbindlichen Menschenrechtskatalogs gerungen wurde. Wird der Verzicht auf Strafverfahren damit begründet, daß die Geltung der Menschenrechte immer dann eine Fiktion ist, wenn sie mißachtet werden, dann werden die Menschenrechte und die Rechtsstaatsidee relativiert. Ein „neuer“ Positivismus, der um der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung willen auch einer Rechtspraxis contra legem Normqualität zuspricht, ginge gefährlich weiter als der traditionelle Gesetzespositivismus, der lediglich auf jede inhaltliche Bestimmung möglicher Rechtssätze verzichtet. Ein Ausweg wäre eine Amnesie oder Gnade vor Recht, deren rechtspolitische Implikationen offen zu diskutieren wären.
Manch eine/n hat die eilfertige Bereitschaft der Justiz, dem ehemaligen Systemgegner im Kalten Krieg den Prozeß zu machen, traurig gestimmt, weil sie sichtbar mache, daß viele Opfer des Dritten Reiches in der Bundesrepublik ein zweites Mal besiegt wurden. Doch auch eine andere Sichtweise ist möglich: endlich werden die Maßstäbe anerkannt, unter deren Mißachtung auch die Opfer der NS-Zeit gelitten haben, Maßstäbe, an denen sich zukünftig auch bundesrepublikanische Befehlsgeber und der Gehorsam der Befehlsempfänger werden messen lassen müssen.
Die Autorin ist Rechtsanwältin und im Vorstand des „Republikanischen Anwaltvereins“.
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