Ein Bild der Anarchie

■ Kunstmarkt in Moskau jetzt: bizarre Rituale, findige Apparatschiks. Der einstige Untergrund beherrscht den Dollarmarkt. Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Das Schwein ist geschlachtet — Nikolai hat sein Werk vollbracht. Die letzte einer Reihe von Aktionen1, die im März und April das Moskauer Künstlervölkchen in Aufregung versetzten, verläuft wider Erwarten unspektakulär.

„Die Aktionen sind eine Antwort auf die politische und kulturelle Situation. Niemand interessiert sich mehr für die Kunst, wir befinden uns in einer Krise des Sehens. Die öffentliche Tötung symbolisiert den radikalen Schnitt, der getan werden muß, damit die Erneuerung beginnen kann“, meint Oleg Kulik, Initiator des Unternehmens und künstlerischer Berater der Galerie Redshina Art.

Mit dem Finale der „Animalischen Festspiele“ geht eine „Ära der Kunst“ zu Ende, die mit der Öffnung nach außen ihren Anfang nahm. Acht Künstler und ein „staatlich geprüfter Schlächter“ treten an, den Tod des überholten Kanons zu demonstrieren: Anatoli Osmolowskis Leoparden stürmen die Tempel der alten Mythen und Ideologien, während Wadim Fischkin mit seinem „pseudowissenschaftlichen Experiment“ die „Schizophrenie der russischen Mentalität“ porträtiert. Juri Leidermann versteht seine Illustration literarischer Werke als Versuch der Ablagerung veralteter kultureller Werte, sein Thema ist das Erlöschen, das Kramen in der Dunkelheit. Boris Orlow dagegen parodiert den „Staatskünstler“, der des sozialen Auftrags bedarf. Doch die Denkmäler der Macht, in deren Dienst man treten könnte, sind gestürzt, und so besteigt ein Huhn den leeren Sockel.

Das Tier wird zum Synonym für den Menschen, der sich selbst persifliert. Es erlebt die Erschütterung, die der Mensch nicht mehr zu spüren fähig ist. Gleichzeitig wird hier der Aufstand geprobt — ein Aufstand der Unterhaltung, der Zerstreuung, des Unsinns. Die Installation verwandelt sich in die „Energie des reinen Zeigens“ (Leiderman): je schriller, verrückter, witziger die Show, desto angemessener der bizarren Wirklichkeit. Die Wiederholung dient einzig der Reproduktion von Lustgewinn.

Die Galerie Redshina Art ist gegenwärtig das wohl merkwürdigste Phänomen der Kunstszene Moskaus. Mit hochgestapelten, intelligenten und geistreichen, zuweilen kitschigen Einfällen lockt Oleg Kulik das kunstbesessene Publikum. Sein Ansatz ist der Raum als Stätte der ironischen Selbstreflexion. Die Zusammenarbeit mit dem Eigentümer der Galerie, Wladimir Owtscharenko, begann im September 1991. Der investiert ungeheure Summen, die es Kulik erlauben, die ausgefallensten Projekte zu realisieren. Nach dem geschäftlichen Erfolg der Galerie befragt, läßt Owtscharenko, der sich weniger als Mäzen denn als Assistent verstanden wissen will, nicht viel mehr als einen Seufzer vernehmen. Auf den ersten Blick möchte man eher annehmen, der russische Markt für zeitgenössische Kunst sei von Rezession und Niedergang verschont geblieben, erfährt er doch ein geradezu hemmungsloses Wachstum. Man zeigt sich nicht unvorbereitet, zumal eine ungebrochene inoffizielle Tradition existiert. Waren es vordem einige wenige private Sammler und Freunde, die die immer schon verkaufswilligen Künstler in ihren Ateliers heimsuchten, sind es heute vorzugsweise russische Banken, die ihr Geld auf diese Art anlegen, denn neben Öl und militärischer Technologie ist Kunst die einzige konvertible Währung.

Unterdessen haben sich innerhalb eines Jahres mehr als hundert Galerien in Moskau registrieren lassen. Die Perwaja Galereja, längst zur Legende geworden, wurde bereits 1989 von den Künstlern Aidan Salachowa, Aleksander Jakut, Jewgeni Mitta und dem Ökonomen Michael Kruk begründet. Bestimmt für das eingeweihte Publikum — kein Hinweis verrät die Existenz, geschweige denn das luxuriöse Interieur inmitten Moskaus — stellt sich das „neue Establishment“ zur Schau, der inzwischen weltberühmte einstige „Untergrund“. Ausschlaggebend für die Präsentation scheint allerdings allein die Weltranglisten-Platzierung des Künstlers zu sein. Dem Moskauer Konzeptualismus und seiner Tradition Raum zu gewähren fühlt sich die Galerie L verpflichtet. Im ehemaligen Ausstellungssaal des nördlichen Rajon von Moskau führen seit Dezember 1991 die beiden Kuratorinnen Lena Selina und Lena Romanowa das Regiment. Für sie ist die Galerie die „Bühne zur Selbstverwirklichung“ des konzeptionellen Autors, um des „Bedeutsamsten willen, das die sowjetische Kunst hervorgebracht hat“ (Selina). Irina Basilewa, Galeristin bei A3 und Welta, unternimmt in ihren „Genredarbietungen“ Bataille und Idylle und Stilleben den Versuch, die neue Vielfalt der Stile und Materien zu synthetisieren. Ihr Credo ist die Exposition als Kunstwerk. Das Resultat braucht nicht vorgestellt zu werden.

„Kunst als Kommerz hat es siebzig Jahre nicht gegeben. Wir stehen ganz am Anfang. Eigentlich interessiert mich der kommerzielle Aspekt der Kunst recht wenig. Ich bin Kunstwissenschaftler. Jetzt aber befinde ich mich in einer paradoxen Situation: indem ich mich dafür engagiere, Institutionen zu organisieren, produziere ich zugleich meine zukünftigen Feinde, denn als Wissenschaftler trete ich natürlich für die Unabhängigkeit der Kunst von kommerziellen Strukturen ein.“ bemerkt Leonid Bashanow, Mitbegründer der Vereinigung Eremitage, die 1987 zur Aufarbeitung der Geschichte der sowjetischen alternativen Kunst konstitutiert wurde, und heute Direktor des daraus hervorgegangenen Zentrums für moderne Kunst. Bashanow ist es gelungen, von der Moskauer Stadtregierung ein ganzes Häuserkarrée zur Verfügung gestellt zu bekommen. Gelegen jenseits des Kreml, auf der anderen Seite der Moskwa, ist es der ideale Ort, ein Zentrum der Kunst zu etablieren. Obwohl die Verträge mit der Stadt infolge fehlender gesetzlicher Grundlagen keine unwiderrufliche Gültigkeit besitzen, und die zukünftige Finanzierung keineswegs gesichert ist, hat man begonnen, die Gebäude in eigener Regie zu rekonstruieren. Und man schwelgt in Plänen für die Zukunft: Galerien, Ateliers, ein Architektur- und Designbüro, Ton- und Videostudios, ein Dia-Archiv, eine Bibliothek und eine Videothek, ein Kino und ein Theater sollen dort eines Tages zu finden sein. Konzerte, Festivals, Workshops und Seminare werden stattfinden, eine Waldorf-Schule und eine eigene Zeitschrift sind geplant. Bereits jetzt werden Ausstellungen und Projekte realisiert. Das Zentrum unterstützt neugegründete Künstlerverbände, beteiligt sich an der Organisation der Moskauer Art Fair, die im Oktober 1991 zum zweiten Mal vonstatten ging, sowie an der Stiftung Malewitsch zur Förderung der Kultur. Experten betreuen das Programm, organisieren die Zusammenarbeit mit in- und ausländischen Institutionen, widmen sich der kontinuierlichen Aufarbeitung und Dokumentation und veranstalten Seminare zur Kunstgeschichte und Ästhetik in Kooperation mit der Moskauer Universität. Die Ausstellung zeitgenössischer Kunst bleibt den schon existierenden Galerien überlassen, die dem sich differenzierenden Spektrum Rechnung tragen. Selbstständig arbeiten die Galerien Gelman, 0+1, Studio20 und Schkola. Dem Zentrum unterstehen vier weitere, unter anderem die Eremitage, die ihren Namen von der gleichlautenden Kunstsammlung erbte. Neben figürlicher, neoexpressionistischer und abstrakter Malerei finden sich naive und konzeptionelle Kunst, die experimentelle Fotographie, Architektur und Design in den ebenso klar definierten Repertoires. Der Raum für das reine künstlerische Experiment, für Debütanten und neueste Erscheinungen der Kunst ist die Con-Galerie, die sich zugleich als Kommunikationszentrum versteht.

Viele der Unternehmen sind eher von schwärmerischen Begriffen als von praktischer Erwägung getragen, nicht wenige wurden gegründet mit der Absicht, ein Museum für zeitgenössische Kunst zu eröffnen. Die Galerie Art Moderne hat in zwei Jahren annähernd 2.000 Werke Moskauer Künstler gesammelt, die 1988 eröffnete Galerie Mars über 1.000. Andrej Jerofejew, bekannter Kritiker und Direktor des Museumsprojektes Zarizyno, zeigte bereits Teile seiner Sammlung im In- und Ausland. Seine Idee der Rekonstruktion der gewaltigen Ruinenanlage des im 18. Jahrhundert für Katharina II. begonnenen und niemals fertiggestellten Zarenpalastes im Süden Moskaus und ihr Ausbau zum Museum hingegen wird einstweilen Wunschtraum bleiben müssen.

Manchem ist es schließlich nicht genug, erfolgreicher „Geschäftsmann“ zu sein: überzeugt von der signifikanten Bedeutung seiner intellektuellen Bemühungen gründete Marat Gelman, Galerist in Bashanows Zentrum,die High School of Art Adminstration, die im September die ersten Studenten aufnehmen wird. Hier sollen die künftigen Galeristen und Museumsdirektoren herangezogen werden. Und als einer der Initiatoren der Vereinigung Moskauer Galerien, der sieben der schon genannten angehören, formuliert er mit großen Worten ein ganzes Programm für die Entwicklung des zivilisierten Kunstmarktes in Rußland. Ganz nebenbei hofft man, das nötige Kleingeld aufzutreiben.

So verschieden die Profile und Intentionen der Galerien auch sind, eines haben sie gemeinsam: Amateurvereine sind sie alle. Nicht eine wäre in der Lage, von den eigenen Einnahmen, sofern diese vorhanden sind, zu bestehen. Ohne, daß es durch steuerliche Vergünstigungen stimuliert würde, finanzieren verschiedene Parteien und staatliche Organisationen, private Firmen und Mäzene die Ausstellungen und Kataloge, bezahlen die Kuratoren. Das hat den Vorteil, daß ungewöhnliche Projekte nicht schon an fehlenden Mitteln scheitern. Von einem „Markt“ in westlichem Sinne kann keine Rede sein. Da der Rubel keine konvertible Währung ist, ziehen es die meisten Künstler vor, ihre Werke im Ausland zu verkaufen — immerhin garantiert ein Bild ein Jahr das Überleben. Ein eigenes Preissystem wäre aber die Voraussetzung für die Entwicklung des Marktes. Verträge mit den Galerien, die diesen ein regelmäßiges Einkommen sichern würden, existieren nur in den seltensten Fällen.

Eine andere Ursache ist der im Untergrund tobende Kampf unvereinbarer Interessen. Die stabilen Hierarchien staatlicher Kulturpolitik sind zerfallen, die alten und neuen Kulturfunktionäre gebieten freilich nach wie vor über ein subtiles und ausgeklügeltes System, den einen zu fördern, dem anderen hinderlich zu sein. Sie sind zweifellos im Vorteil, verglichen mit privaten Unternehmern, verfügen sie doch über Kapital und die nötige Infrastruktur. Ein klassisches Beispiel ist die Galerie Today, die auch an der Organisation der Sotheby's-Auktion 1988 beteiligt war: hervorgegangen aus der Konkursmasse des Künstlerverbandes, unterstützt vom Ministerium für Kultur, liegt sie in exquisiter Lage auf dem alten Arbat — die meisten anderen Galerien müssen sich dagegen mit den Randgebieten Moskaus begnügen. Today-Kataloge und -Plakate sind von hervorragender Druckqualität, während die der anderen nicht selten der Ausführung harren.

Die offiziellen Kunstzeitschriften Iskusstwo, Tvortschestvo und Dekorativnoje Iskusstwo, aber auch die zum ersten Mal vor einem Jahr herausgegebenen Galereja und Vernisash haben ihr Erscheinen vorerst eingestellt, nicht zuletzt deshalb, weil neben sprunghaft steigenden Preisen für Druck und Drucklegung die Anteilnahme der Öffentlichkeit fehlt. Die Aufhebung ideologischer Gebote hat hier weder zum Entstehen wesentlichen Interesses noch zur öffentlichen Erörterung von Kunst geführt.

Im ganzen summieren sich die Widersprüchlichkeit gesetzlicher Regelungen, ökonomischer Fiktionen und provisorische Initiativen, der Mangel an regulierenden Mechanismen einer begleitenden Kunstkritik und der Mangel an Information zu einem Bild der Anarchie. Die gewonne Freiheit heißt folglich nicht unbedingt Erneuerung. Uta Grundmann

1 Animalisches Festival 5.März bis 15.April 1992: Anatoli Osmolowski, Die Leoparden stürmen den Tempel ; Tatjana Maschukowa/ Juri Leiderman, Der Hund von Baskerville ; Igor Tschazkin, Hunde ; Wadim Fischkin, Zwischen Hund und Kuh ; Boris Orlow/ Anatoli Lepin, Jekaterina ; Juri Leiderman, Grube und Pendel ; Nikolai, Ein Schweinsrüssel macht Geschenke