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„Die Zeit sitzt uns im Nacken“

■ Rußlands Umweltminister Iwan Frolow über die Notwendigkeit westlicher Hilfe bei der Umweltsanierung

WORLD MEDIA: Vor einem halben Jahr haben Sie Ihr Amt übernommen. Ist die ökologische Situation Rußlands schlimmer, als Sie damals gedacht haben?

Frolow: Seit 1990 sind die Informationen zu diesem Thema nahezu völlig zugänglich. Was mich betrifft, so beschäftige ich mich aber schon seit 15 Jahren mit Umweltschutz. Aber die neuen Fakten bestätigen das frühere Bild: In fünfunddreißig russischen Städten gibt es eine Luftverschmutzung, die absolut unerträglich ist. Wenn man weniger strenge Maßstäbe anlegt, sind sogar 65 bis 110 Städte davon betroffen. Und es sind keine Provinznester, sondern bedeutende Ballungsgebiete, die Hauptstadt eingeschlossen. Autoverkehr, metallverarbeitende und Chemieunternehmen: Die Gesamtwirkung all dieser Emissionen ist eine schreckliche Bedrohung für das Leben der Städter.

Auch die Gewässer sind in einem furchtbaren Zustand. Die Wolga, die einst das Kleinod unter den russischen Flüssen war, wird langsam der europäischen Kloake ähnlich, zu der die Donau geworden ist. Der Ladoga- und der Onega-See, aber auch die Newa, die Nördliche Dwina und praktisch alle Flüsse des Urals sind gefährlich verseucht. Das Kaspische Meer und die Beringsee sind zu Friedhöfen für ausgediente Atomreaktoren geworden. Die radioaktive Verseuchung ist hier sehr beunruhigend. Sie ist überhaupt die schlimmste unserer ökologischen Krankheiten. Es genügt, Tschernobyl oder Kychtym zu zitieren. Und das sind nur die berühmtesten von den Dutzenden Regionen, die durch schlecht kontrollierte atomare Entsorgung verseucht wurden.

Die Liste der ökologischen Krebsherde ist unendlich. Welche Maßnahmen wären Ihrer Meinung nach notwendig, um sie zu beseitigen oder zumindest zu begrenzen?

Eine wirkliche Beschreibung unserer Verschmutzungsquellen ist eine konkrete und dringende Aufgabe, da wir mehr und mehr eine Bedrohung für unsere Nachbarn darstellen. Mit unseren Nickelkombinaten sind wir die Hauptquelle für die Luftverschmutzung durch Schwefelverbindungen in Skandinavien. Die finnische Gesellschaft Outokoumpa hat vorgeschlagen, diese Kombinate für einen Betrag von 640 Millionen Dollar zu sanieren. Finnland und Norwegen wären bereit, uns 100 Millionen zur Verfügung zu stellen und uns einen Kredit über 540 Millionen auf die künftigen Nickelerträge zu geben. Aber Berechnungen haben gezeigt, daß dieses Geld nicht ausreichen würde. Ich habe daraufhin die Umweltminister dieser beiden Länder gebeten, nach zusätzlichen Finanzierungsquellen zu suchen, und wie es scheint, wollen sie sich darum kümmern.

An diesem Beispiel kann man genauer sehen, wie sich europäische Hilfe für Rußland abzeichnet. Wie sollte sie im einzelnen aussehen?

In der Reihenfolge der Dringlichkeit brauchen wir zunächst Investitionen, Technologie und Know-how und dann — in geringerem Maße — Beratung und Ausbildung. Leider kommen die Angebote, die man uns macht, in der umgekehrten Reihenfolge. Rußland mangelt es heute nicht so sehr an Hirn, sondern an Geld. Um die Situation zu ändern und möglichst viele Unternehmen radikal zu sanieren, brauchen wir viel mehr Investitionen. Es ist unbedingt notwendig, unsere Projekte zum Umweltschutz mit ausländischen Unternehmen zu koordinieren, die sich bereits bei uns niedergelassen haben. Wenn sie bereit sind, an der Finanzierung dieser Projekte mitzuwirken, muß man ihnen die besten Konditionen anbieten. Ich meine damit Umweltschutzprogramme außerhalb ihrer eigenen Fabriken, in denen sie aufgrund von Verträgen bereits für die Sauberkeit der Umwelt sorgen müssen.

Die Hilfe des Westens ist für diesen selber genauso wichtig wie für uns. Man fürchtet heute zu Recht eine Erwärmung des Klimas. Die entwickelten Länder könnten Wälder in Rußland pflanzen. Der Wald ist tatsächlich der effektivste Konsument von Kohlendioxid: Ein einziger Hektar kann mehr davon absorbieren als eine Anlage, die zum gleichen Preis bei dem am meisten verschmutzenden Unternehmen der entwickelten Länder installiert würde. Dazu kommt noch, daß es außerhalb Rußlands kaum noch Bereiche gibt, in denen neue Wälder aufgezogen werden könnten.

Wäre Rußland allein in der Lage, seine Öko-Sphäre zu schützen, wenn man ihm aus dem einen oder anderen Grund nicht helfen würde?

Alle Fakten, die ich in den letzten Jahren gesammelt habe, bringen mich dazu, mit Nein zu antworten. Unumkehrbare Schäden in der gesamten Natur und im genetischen Erbe kommen sehr schnell zustande. Jedenfalls viel schneller, als unsere Wirtschaft sich ohne westliche Hilfe entwickeln könnte, bis sie so weit wäre, die Natur zu erneuern. Die Natur kann nicht warten, und wenn der gegenwärtige Rhythmus noch eine Generation beibehalten wird, kann keiner mehr mit dieser Belastung fertig werden. Beim Umweltschutz sitzt uns die Zeit im Nacken. Und am verwundbarsten sind wir auf der Seite, auf die wir in unserem Leben, das zugleich voller Sorgen und voller Sorglosigkeit war, am wenigsten geachtet haben.

Der Westen macht sich viele Sorgen um unsere Atomkraftwerke. Glauben Sie, daß diese mit einer ökologischen Sicherheitspolitik vereinbar sind?

Ich habe mehrere deutsche Atomkraftwerke besucht. Da sah alles recht vertrauenswürdig aus. Trotzdem bin ich nicht dafür, unser Netz von Atomkraftwerken auszubauen, auch nicht mit westlicher Technologie. Ökologisch gesehen, wäre das unklug. Es wäre am besten zu warten, bis Atomkraft und ökologische Sicherheit miteinander verbunden werden können. Das heißt aber nicht, daß man bestimmte Entscheidungen aufschieben sollte. Ganz im Gegenteil, ich halte jeden Versuch einer Verbesserung von Reaktoren des Tschernobyl-Typs (RBMK) für völlig falsch. Die 16 vorhandenen Reaktoren dieses Typs sollten abgeschaltet werden. Interview: Dimitri Frolow,

'Nesavisimaja Gaseta‘

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