: Ein zweiter Bildungsweg
■ Riesenköpfe, weiße quengelnde Männchen und bedrohliche Spielzeugwelten: Comics von Joe Sacco für »mature readers« in der Comic-Galerie »Grober Unfug«
Comics sind thematic apperception tests. Die Aufmerksamkeit entzündet sich reflexartig an ganz bestimmten Images, andere lassen sie kalt. Licht an, Licht aus. Der Comic ist ideal und geeignet, mit flüchtigem Blick die Abziehbilder zu streifen, wer glaubt, gründlich lesen zu müssen, ist Dilettant. Diesem Test also gemäß, den ich beim Rundgang durch die Comicgalerie Grober Unfug vor den Comics des Amerikaners Joe Sacco notgedrungen absolvierte, springe ich weder auf Saccos Rock'n'Roll-Luftsprünge noch seinen Alternativ-Kitsch (Liebeskummer/Kumpanei/Sauforgien) an, sondern einzig und allein auf seine aliens. Zum Beispiel Thin white Rope, zu deutsch dünnes, weißes Seil. Der Plakatzyklus des 1960 auf Malta geborenen Zeichners zeigt gelegentlich ein weißes, embryonales Männchen, das — in alle Winkel des Raumes aufgezurrt — zum Zerreißen gespannt seinen Munch-Schrei schreit. Oder Babies in Toyland. Skunk., ein Plakat für 600,—. Ein Riesenkopf krabbelt verständnislos durch eine bedrohlich weiße Spielzeugwelt. Ein schwarzer Pitbullterrier verschlingt des Riesenkopfes Lieblingsding. Die polymorph perverse Phase, da geht sie hin! Oder Saccos Plakat für die Miracles Workers, denen er eine Pyramide mit Hieroglyphen zeichnet, Schattenrißpharaonen und tauber Horus, wie sie MGs schultern, auf Zeichen zielen, die nicht mehr Eule/Palmwedel/Schlange, sondern Bombe/ Abwehrgeschütz/Panzer sind.
Mit Yahoo No 5, den in USA erscheinenden Fantagraphics, ist Sacco schon hautnah an seiner Sozialisation dran: »Ich verlebte in Australien den größten Teil des Vietnamkriegs ..., als Saigon fiel und der Libanon zerbröckelte, beendete ich gerade meinen zweiten Bildungsweg ... fing an, ernsthaft Cartoons zu zeichnen, als der Iran den Irak attackierte.« Vom Titelblatt des Hefts stiert Norman Schwarzkopf mit Lippenstift auf der porösen Backe ins Off; »How I loved the War« heißt es über den vier Sternen seines Käppis. Vor dem Fernseher durchlebt Saccos Hero, Lennon-Brille, schwarzer Nackenzopf, Stelzenbein (Wie ich mir einen Intellektuellen vorstelle...) den Golfkrieg etwa so: »That's the same F-14 that took off yesterday! And the day before yesterday!« Die folgenden Kapitel lesen sich wie folgt: »Palestinians and other problems«, »Desert Sheep«, »Notes from a Defeatist«. Die Images: Kleinbild, Großbild, Vogelperspektive, Fischei — Sprechblasen, Textschilder, Hieroglyphen — gescheiterte Existenz, Existenzminimum, Exit.
Und gäbe es beim thematic apperception test noch ein freies Feld für Kommentare, wäre zu bemerken, daß Joe Sacco mit seinen tollen Fahrradschlauchmündern und Glupschaugen doch gehörig dem legendären Robert Crumb nacheifert. Aber der Versuchsleiter müßte diese Bemerkung streichen, schließlich geht es beim Test um den Reflex und nicht die Exegese des Probanden.
Wer seine ganz persönliche, unrezensierte Reaktion auf Joe Sacco festhalten will, schreibt sich am besten in das Gästebuch ein, das am Ende des kleinen Rundgangs auf einer Glasvitrine liegt. Ein schlechter Kugelschreiber dient als Bekennerutensil. Ein Joe-Sacco-Verehrer kantet die Buchstaben in Graffitimanier: »That stuff fucking kicks my ass all over this place. Henry.« Mirjam Schaub
Ein Amerikaner in Berlin — Joe Sacco. Comic-Galerie Grober Unfug. Zossener Straße 32, 1-61, 11-18.30 Uhr, bis Donnerstag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen