Der schwere Weg zum eigenen Leben

■ Jugendliche, die ihre gleichgeschlechtliche Orientierung entdecken, sind mit Tabus, eigener Unsicherheit und Ängsten alleingelassen/ Schulsenator Klemann verbot schon im letzten Jahr, Schwule aus Beratungsstellen in die Schulen einzuladen

Ob Homosexualität eine Sünde, eine Krankheit oder »nur« ein Problem ist, hängt vom jeweiligen Diskurs ab, in dem das Phänomen behandelt wird. Schwule und Lesben werden von der Kirche nicht mehr verbrannt, sondern nur noch als arme Verirrte bemitleidet. Die meisten TherapeutInnen zumindest sind hierzulande mittlerweile zur Erkenntnis gelangt, daß Homosexualität nicht heilbar ist. Aber auch wenn eine Legion von gutgemeinten Talkshows sich bemüht, Lesben und Schwule als fast normale Menschen zu präsentieren, schwebt über denen, die das eigene Geschlecht bevorzugen, noch immer das Stigma der Gemeinschaftsfremden.

In einer Gesellschaft, die ihre Identität nicht zuletzt über den Ausschluß aller Abweichungen bezieht, haben vor allem homosexuelle Jugendliche noch immer arge Probleme, einen eigenen Weg jenseits der Normen zu gehen. Jede abfällige Bemerkung, jede diskriminierende Darstellung kann gerade pubertierende Lesben und Schwule, die, wie ihre heterosexuellen AltersgenossInnen auch, einen schwierigen und häufig schmerzhaften Prozeß der Identitätsfindung durchlaufen, in ihrem Selbstwertgefühl erschüttern. Da Identität keine originäre Schöpfung des Individuums ist, sondern vor allem über den Weg sowohl der positiven als auch der negativen Identifikation erlangt wird, sind gerade für diese Entwicklungsphase Vorbilder, das heißt Personen, an denen man sich orientieren kann, von großer Wichtigkeit. Das hat offensichtlich auch Berlins Schulsenator Jürgen Klemann erkannt, als er letztes Jahr per Erlaß den Berliner Schulen verbot, Lesben und Schwule aus den jeweiligen Beratungsstellen in ihren Unterricht einzuladen. Homosexualität solle in den Schulen dieser Stadt nicht propagiert werden, so die Begründung des Senators. Dabei steht er im Gegensatz zu allen sexualwissenschaftlichen Erkenntnissen, die in der einstündigen Anwesenheit der homosexuellen BeraterInnen keine sittliche Gefährdung ganzer Schulklassen sehen. Gleichzeitig aber werden allen Jugendlichen, die sich zum eignen Geschlecht hingezogen fühlen, die Möglichkeiten einer positiven und bestätigenden Spiegelung der eigenen Empfindungen genommen.

Lesben und Schwule werden mit positiven Darstellungen ihrer Lebensweise nicht gerade überhäuft. Die »irre-romantische« schwule Love-Story in der 'Bravo‘ oder die Nachmittagsserie über die Sechzehnjährige, die mutig für ihre Liebe zur Nachbarstochter eintritt, sind immer noch eine kaum wahrzunehmende Zukunftsmusik. Angesichts der mageren Versorgungslage der Nachwuchslesben und -schwulen mit identifikationsgerechtem und identitätsförderndem Material drängt sich geradezu die Frage auf, ob Homosexuelle ein größeres Abstraktionsvermögen haben als andere Menschen — schließlich sehen wir ständig Liebesgeschichten auf der Mattscheibe und Leinwand, die unseren eigenen realen Liebeserfahren nur sehr bedingt entsprechen. Daran ändern auch die unzähligen Fernsehdiskussionsrunden nichts, die anstelle der Ausgrenzungs- und Verschweigungstaktik der vergangenen Jahrzehnte nun die Integrationsschiene fahren, nach dem Motto: Was uns ähnlich ist, ist nicht gefährlich. Dieser Versuch einer Rückholung in die »Normalität« mag zwar — sozusagen als Nebeneffekt — bei dem bzw. der ein oder anderen Jugendlichen ein befreiendes Aha-Erlebnis auslösen; er klassifiziert jedoch immer noch die Empfindungen der gleichgeschlechtlich Liebenden als (gesellschaftliches) Problem. Daß ein lesbisches oder schwules Leben glücklich und erfolgreich sein kann, erfahren homosexuelle Jugendliche in der Regel erst durch den Kontakt mit Gleichgesinnten. Diese Kontaktaufnahme ist in einer Stadt wie Berlin sicherlich um einiges leichter als in der Provinz. Vor allem Lesben und Schwule, die ihre Jugend auf dem Land oder in einer Kleinstadt fristen müssen, wissen ein Lied von dem Gefühl zu singen, die einzigen ihrer Art zu sein. Besonders in ländlichen Gegenden stehen homosexuelle Neigungen derart jenseits des gesellschaftlichen Kontextes, daß viele erst nach Jahren ihren Empfindungen einen Begriff zuordnen können.

Die Offenbarung der eigenen Gefühle beziehungsweise Lebensweise gegenüber der Umwelt ist auch für die meisten älteren Lesben und Schwulen eine Entscheidung, die in jedem Einzelfall gut abgewogen sein will. Die Angst vor unangenehmen Überraschungen, das heißt Ablehnungs- und Ausgrenzungsreaktionen, ist groß und keinesfalls unberechtigt. Insbesondere Jugendliche, die ihr soziales Umfeld anders als Erwachsene nicht verlassen können, sind in besonderem Maße auf die Akzeptanz ihrer Familie, FreundInnen, SchulkameradInnen etc. angewiesen. Um diese nicht zu gefährden, inszenieren viele junge Lesben und Schwule ein — bisweilen jahrelanges — Versteckspiel. Wenn auch die geheime Liebe à la Romeo und Julia ihre eigenen Reize haben mag, so ist der Geheimhaltungszwang eine große Belastung und ein idealer Nährboden für ebenso quälende wie sinnlose Schuldgefühle. Daß nicht die Homosexualität, sondern die Gesellschaft, in der wir leben, pervers ist, ist eine Erkenntnis, die nur denen zugänglich ist, die bereits über ein ausreichend entwickeltes Selbstbewußtsein verfügen. Bei vielen homosexuellen Jugendlichen ist aber gerade dies noch nicht der Fall. Sie brauchen, stärker als erwachsene Lesben und Schwule, Bestätigung durch ihre heterosexuelle Umwelt. Diese wird ihnen aber gerade von Gleichaltrigen, die, um die eigene wacklige Identität zu sichern, nicht selten besonders heftig auf Abweichungen von den allgemeinen Richtlinien reagieren, häufig nur sehr zögerlich zugestanden. Selbst die gute Freundin, die es nicht weiter schlimm findet, daß ihr/e GesprächspartnerIn homosexuell ist, ist in der Regel nur bedingt in der Lage, auf die spezifischen Probleme und Fragen derselben einzugehen. Nicht nur die eigenen Vorurteile und verinnerlichten Tabus, sondern auch die mangelnde Übertragbarkeit bestimmter Erfahrungen setzen einem möglichen Austausch Grenzen. Dieser Austausch mit anderen aber ist wichtig, damit auch junge Lesben und Schwule ein ungestörtes und gesundes Verhältnis zu ihren eigenen Gefühlen, Erfahrungen und Lebensentwürfen entwickeln können. In Berlin greifen zwei Anlaufstellen dieses Bedürfnis auf und bieten Freizeit- und/ oder Gesprächsgruppen für junge Homosexuelle an: die Lesben- und Schwulenberatung in der Schöneberger Kulmer Straße 20a und Lambda in der Weddinger Ackerstraße 13. Sonja Schock