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»Jesus liebt uns, weil er uns liebt«

■ »Marsch für Jesus«: 50.000 Menschen feierten Ihn zwischen Marx-Engels-Platz und Brandenburger Tor

Mitte. Die U- und S-Bahnen zum Marx-Engels-Platz sind am Sonnabend überfüllt mit Christen. Zu Tausenden strömen singende Jugendliche herbei. Sie halten sich an den Händen oder tragen Transparente und Luftballons mit Aufschriften wie »Für Jesus gehe ich meilenweit«. Ihre Herzen lodern für Jesus, dem Herrn der Welt.

Aus ganz Deutschland sind sie gekommen, um in einem »Marsch für Jesus« öffentlich den zu preisen, dem sie folgen wollen. Und beten wollen sie für Deutschland, die Einheit, für die Armen in Rumänien, für den Wohlstand der Nation, für die »Obrigkeit«, namentlich für Diepgen und gegen die »Mächte der Finsternis«, den Kommunismus und die Abtreibung. Seit Monaten organisiert wurde das christliche Spektakel von Walter Heidenreich und seiner Lüdenscheider Crew aus der Freien Christlichen Jugendgemeinschaft e.V.. Nach Berlin gekommen sind Christen, denen die Amtskirchen zu lau, zu grau, zu leise und zu intellektuell sind. Es sind Baptisten, Adventisten, Freikirchler aller Schattierungen, Charismatiker aller Couleurs, insgesamt rund 50.000 Männer, Frauen und Kinder, die öffentlich bekennen: »Jesus liebt mich, weil er mich liebt.« Die übergroße Mehrheit sind nette Teenager genau von der Sorte, die Muttern als Schwiegertöchter oder -söhne haben will. Sie passen in den Zeitgeist, weil sie meinen: Wenn ich mich ändere, ändert sich mit mir die ganze Welt. Halleluja!

Mitten im Zentrum der alten Macht, dort wo einst Honeckers Geriatrie regierte, ist eine riesige Bühne aufgebaut. Daneben Lautsprecher, so hoch wie der Palast der Republik. »Heute regiert hier Jesus«, schreit der Prediger tausendfach verstärkt in das Mikrophon. »Wer regiert hier?«, und all die Menschen aus Lüdenscheid, Kassel, Dithmarschen, Erfurt, Dresden und Gott weiß woher wiederholen es: »Jesus regiert hier, Halleluja« und morgen Deutschland und die ganze Welt, »Amen«.

Nicht die Botschaft ist interessant, sondern wie sie präsentiert wird. Die Organisatoren, der wie ein Jesus- Yuppie agierende Heidenreich, der Ex-Opel-Manager Berthold Becker und am demagogischsten Deutschlands Billy Graham, der Hamburger Evangelist R. Bonnke, ziehen alle Register der Massenpsychose. Aufpeitschende christliche Rockmusik und in die Musik hinein gehämmerte Botschaften. Kurze Sätze, viele Wiederholungen. Mit hoch erhobenen Händen und geschlossenen Augen schreien die Menschen in den Himmel, wiegen sich im Takt, steigern sich in einen Rausch: »Jesus liebt Deutschland.« Viele haben 24 Stunden nicht geschlafen, da kommen die Tränen schnell und Schauer überziehen die Haut. Es ist ein Massenorgasmus für Jesus und seine Liebe »zu unserer Nation«, und die Veranstalter genießen es. »I had a dream«, schreit ein englischer Laienprediger in Jeans und mit Hippie-Haaren ins Mikro. Sein Körper zuckt, bäumt sich auf. »Dafür liebe ich dich, Jesus«, und »Jesus liebt Euch«. Dann geht ein ehemaliger britischer Soldat auf die Bühne. Im Zweiten Weltkrieg habe er Bomben auf Berlin abgeworfen und Tausende von Menschen getötet. »Das tut mir so leid«, sagt er, aber jetzt »glaube ich an Jesus« und die »christliche Erneuerung durch Deutschland«. Ein 50.000faches »Hosianna« schallt ihm entgegen. Die Menge ist so ekstatisch, daß selbst die Grußbotschaften der evangelischen Kirche und des Regierenden Bürgermeisters mit tosendem Beifall aufgenommen werden.

Nach drei Stunden christlicher Einpeitschung beginnt der eigentliche »Marsch für Jesus«. In Blöcken geordnet führt er über die Straße Unter den Linden durch das Brandenburger Tor. Die paar hundert Fußballfans, die dort ebenfalls bekennen wollten — für Hannover 96 —, suchen erschreckt das Weite. Hier findet die Abschlußkundgebung statt, einschließlich Evangelisation und Lobpreisung von Fernsehprediger Bonnke. Hinter den Kulissen hieß es, sein Auftritt habe die Veranstalter 60.000 Mark gekostet. Aber Geld spielt keine Rolle. In die Spendeneimer der Veranstalter, jubelt Heidenreich, fielen »300.000 Mark alleine in Scheinen«. Halleluja! aku

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