: Wachablösung
Die neue Kunstturn-Europameisterin Tatjana Gutsu (Ukraine) leutet das Ende der Boginskaja-Ära ein ■ Aus Nantes Thomas Schreyer
Nur 0,077 Punkte lagen zwischen der neuen Europameisterin Tatjana Gutsu aus der Ukraine und der Zweitplazierten Gina Gogean aus Rumänien. In den akrobatischen Übungsteilen mochte der Unterschied tatsächlich gering gewesen sein. Und wer von den beiden die besseren Ausdrucksmöglichkeiten zeigte, mag Geschmackssache sein. Doch spätestens bei der Siegerehrung mußten Außenstehenden zwei Welten auffallen: Tatjana Gutsu, ein Mädchen, das sich noch freuen kann, stieg auf das Podest und neben ihr stand wenig später die Vizemeisterin, die keinerlei Reaktionen zu zeigen verstand: Trauergesicht, finstere Miene.
Ja, Tatjana Gutsu war auch schon sehr müde. Aber immer wieder schmunzelte sie nach links und rechts. Sie ist auch erst 15 Jahre, und dennoch wirkt sie schon „reif“ — in ihrem Sport. Seit acht Jahren turnt sie schon und kommt aus einer völlig „unsportlichen“ vierköpfigen Familie. In Odessa ist sie zu Hause, doch trainiert wird nach wie vor am „Runden See“ nahe Moskau. Zusammen, versteht sich, alle Nationalitäten der derzeitigen GUS.
Eine ihrer Trainingskolleginnen ist Svetlana Boginskaja. Die Weißrussin wurde jedoch entthront: Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Boginskaja und Gutsu bis zum letzten Gerät, dem Boden. Fühlte sich Boginskaja schon zu sicher? Glaubte die „Ballerina“ die Medaille schon um ihren Hals? Ist sie — als Reaktion auf das unnatürliche öffentliche Interesse hochnasig oder unkonzentriert? Bei der letzten Akro-Bahn ihrer Bodenübung fehlte die Konzentration, sie konnte das letzte Flugteil nicht zum Stehen bringen und griff mit der Hand zum Boden. Aus der Traum vom Gold, dafür Platz fünf. Und sollte es sich bewahrheiten, daß die „Boginskaja-Ära“ wie schon so oft behauptet, prophezeit und von der Konkurrenz aus gewissen außereuropäischen Ländern auch herbeigesehnt, nun endgültig vorbei ist, so würde Tatjana Gutsu eine würdige Nachfolgerin sein.
Freilich erst mal nur auf der Turnfläche — denn Interviews zu geben, ist noch nicht ihre Sache, da ist sie noch zu ungeübt. Manche Fragen möchte sie nicht gleich beantworten, flüstert sie der Dolmetscherin zu. Und sie wagt es kaum zu sagen, daß sie für die EM in Nantes gar nicht 100prozentig vorbereitet war. Die 100 Prozent werden nämlich für Ende Juli angepeilt, wenn in Barcelona um den Olympiasieg geturnt wird. Da gab es in Nantes noch kleine Fehler am Balken, die nach schwierigsten geschraubten Salti und Flik-Flaks kaum bemerkt wurden. Doch Tatjana Gutsu weiß, was sie in den noch verbleibenden zwei Monaten zu tun hat. Und jetzt weiß sie auch, welche Möglichkeiten definitiv in ihr stecken: sie greift nach Olympischem Metall.
Ob sie außer Turnen noch andere Interessen hat, „Jungs“ zum Beispiel? Ein Lächeln — nein, sie wisse nicht, welcher Turner ihr gefalle. Eine Turnerin als Vorbild? „Mir gefallen alle Turnerinnen!“ Das sei doch nicht möglich, kommt es aus der Reihe der Fragenden. „Doch, das ist möglich!“ Gutsu bleibt ernst, redet nicht um den heißen Brei, läßt sich auf nichts ein. Das ist die neue Europameisterin: ehrlich in den Antworten, an sich denkend, nicht an das, was am nächsten Tag in den Zeitungen stehen könnte. Tatjana Gutsu „bietet“ nur sich selbst an, nicht ein Konstrukt, nicht die personifizierte Erwartungshaltung Außenstehender.
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