Ablenkungsmanöver?

■ Richter Falcone wurde ermordet, obwohl er derzeit der Mafia nicht gefährlich war

Ablenkungsmanöver? Richter Falcone wurde ermordet, obwohl er derzeit der Mafia nicht gefährlich war

Daß es die Mafia war, die den ehemaligen Leiter des Anti-Mafia-Pools, Giovanni Falcone, ermordet hat, scheint vielen völlig klar — wer sonst sollte es gewesen sein? Schließlich war der Mann das Symbol des Kampfes gegen die Organisierte Kriminalität, war er doch der erste, der einen Prozeß gegen die Clans durchgehalten und für harte Strafen gesorgt hatte. Außerdem sollte er nach Maßgabe von Justizminister Martelli zum Leiter einer „Super-Staatsanwaltschaft“ ernannt werden, die den Kampf gegen die Organisierten im ganzen Land koordiniert. Und Falcone selbst hatte 1989, als vor seinem Haus eine Sprengladung entschärft wurde, vorausgesagt: „Sie werden mich trotzdem ermorden.“ Dennoch gibt es Zweifel zumindest an der Mafia-Urheberschaft. Warum?

Mehrere Gründe sprechen dagegen: Wieso sollten die Clans ausgerechnet jetzt, wo durch die Staatskrise und die paralysierte Justiz sowieso alles zu ihren Gunsten läuft, die Aufmerksamkeit ganz Europas auf sich lenken und mit einem Rieseneinsatz von Ordnungskräften ihre Geschäfte stören lassen? Zudem hatte sich Falcone seit seinem Wechsel ins Justizministerium weitgehend aus dem aktiven Kampf gegen die Clans zurückgezogen. Auch seine Bestellung zum Super-Staatsanwalt war höchst unsicher — verliert doch Martelli in der neuen Regierung vielleicht sein Amt. Unmittelbare Gefahr drohte den Clans von Falcone also kaum. Rache? Immerhin möglich. Dennoch haben die Clans derlei Regungen stets hinter den reibungslosen Ablauf ihrer Geschäfte zurückgestellt. Eher schon ist zu bedenken, was Nando dalla Chiesa, Sohn des vor zehn Jahren ermordeten Präfekten, sagt: „Dieses Attentat zeigt eine Regie, die weit über mafioses Tun auf der Insel hinausgeht.“ Will sagen: das Attentat könnte ganz anderen Zielen dienen. Etwa der Ablenkung von dem, was derzeit gerade in Mailand passiert: Dort sind mittlerweile an die zweihundert Politiker — bis hin zu Abgeordneten und Ministern — und Geschäftsleute in Verfahren wegen Korruption und krimineller Bandenbildung verwickelt. Und dennoch erklärt der federführende Ermittler, dies sei erst die Spitze des Eisbergs, das dicke Ende käme noch.

Italienische Tradition will es, daß die Unterwelt, in Schwierigkeit geraten, in anderen Regionen Böses geschehen läßt. Als 1980 die kriminelle Geheimloge „Propaganda 2“ aufzufliegen drohte, wurde die Aufmerksamkeit durch die Ermordung hoher Politiker Siziliens mit Hilfe neofaschistischer Handlanger abgelenkt. Umgekehrt verübten Mafia-Clans 1984, als die Bosse in Sizilien durch die Aussagen des Kronzeugen Buscetta in den Knast wanderten, Anschläge auf Züge in Mittelitalien. Der Mord an Falcone hat alle Anzeichen einer weiteren Kampagne dieser Art — ausgeführt von hochspezialisierten Technikern, die man in Sizilien sonst kaum findet. Nur in diesem Zusammenhang macht sein Tod einen „Sinn“ — wenn man davon überhaupt zu sprechen vermag. Werner Raith, z. Zt. Palermo