: „Der Kampf um Ottensen“
Die Bebauung des ehemaligen jüdischen Friedhofs in Hamburg spaltet Juden aus aller Welt ■ VON BOIKE JACOBS
Ein salomonisches Urteil hatten Juden und Nichtjuden im Streit um das jüdische Friedhofsgelände in Hamburg-Ottensen erhofft. Aber was Jerusalems Oberrabbiner Itzhak Kolitz nun vorgelegt hat, gleicht eher einer Kampfansage: „Wir verbieten, die Gräber oder das Erdreich des Friedhofs wegzuräumen, und sei es auch, daß man sie in das Land Israel brächte. Wir verhindern nicht eine Bebauung über dem Friedhof, das heißt auf ihm, doch es darf nicht ausgeschachtet werden. Ein von uns berufener Bauarbeiter wird die Bauarbeiten ständig beaufsichtigen.“ Die Reaktion des Grundstückseigners auf dieses Verdikt: „Büll&Liedtke wird das Bauvorhaben im Rahmen der Baugenehmigung und den darin enthaltenen Auflagen in Verbindung mit den Vorschlägen von Landesrabbiner Levinson durchführen.“ In der Auseinandersetzung von Ottensen prallen nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, jüdisches Religionsgesetz und deutsche Rechtsprechung aufeinander, sondern vor allem jüdisch-liberale und jüdisch-orthodoxe Lebensweisen.
Friedhofs-Bebauung wäre ein „Schandmal“
Ein rein innerjüdischer Konflikt also, der zu Unrecht zu einer Auseinandersetzung zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland stilisiert wird. So verweist Rabbiner Kolitz zwar darauf, daß der Verkauf des Grundstückes durch die Jüdische Gemeinde Hamburg und die „Jewish Trust Corporation“ seinerzeit „widerrechtlich“ und daher auch „von vorneherein null und nichtig“ gewesen sei. Schuldzuweisungen erhebt er jedoch nicht gegen die Jüdische Gemeinde Hamburg und den Zentralrat der Juden in Deutschland, sondern gegen den Hamburger Senat und die Politiker in Bonn: „Jedes Gebäude über diesem Friedhof wird ein Schandmal für die deutsche Regierung und für die Stadtregierung sein.“
Der derzeitige Grundstückseigner begründet seinen Entschluß, weiterzubauen unter Hinweis auf Vergangenes: „Das Grundstück ist von Hertie mit einem großen Kaufhaus sowie Hallen, Lager- und Speditionsflächen bebaut worden. In den Boden sind riesige Öltanks, Wasser- und Stromleitungen verlegt worden.“ Teilflächen seien zur Erweiterung des Straßennetzes benutzt worden. „Es handelt sich also mitnichten bei dem Friedhofsareal um unberührten Boden, wie in der Erklärung von Oberrabbiner Kolitz der Eindruck vermittelt wird.“
Und noch eine andere Trumpfkarte zieht die Grundstücksgesellschaft in einem Streit, in dem es nicht nur um religiöse Gefühle, sondern auch um Millionenwerte geht: „Die Jüdische Gemeinde Hamburg hat der Umbettung der noch vorhandenen Grabreste sowohl vor als auch nach der Erteilung der Baugenehmigung zugestimmt.“ Ein Verfahren, für das sich auch der Zentralrat der Juden ausgesprochen habe. Nicht zuletzt gab auch der für die Hamburger Gemeinde zuständige Landesrabbiner Nathan Peter Levinson seine Zustimmung für die Umbettung der Toten von Ottensen. Trotz des heftigen Widerspruchs seiner orthodoxen Kollegen in Deutschland verwies er in einem Gutachten darauf, daß, jüdischer Traditionsliteratur zufolge, im Falle einer unwürdigen Umgebung eine Überführung von Toten nicht nur gestattet, sondern aus religiösen Gesichtspunkten sogar geboten ist.
Aber nicht diese Auslegung jüdischer Religionsgesetze kommt überraschend, sondern, daß Rabbiner Levinson sie erst zu einem Zeitpunkt verkündete, als die verhandlungsbereiten Grundstückseigner bereits Strafanzeige gestellt hatten gegen die orthodoxen Demonstranten. Schließlich zitierte Levinson nichts anderes als die allseits bekannte Begründung, mit der jüdische Organisationen wie die „Jewish Trust Corporation“ (JTC) und die „Jewish Restitution Sucessor Organisation“ (JRSO) im Nachkriegsdeutschland den Verkauf zahlreicher entweihter und zerstörter Synagogen und Friedhöfe religiös rechtfertigten. Beide Organisationen existieren heute nicht mehr.
Auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland ist diese Begründung nicht unbekannt. Denn die „Jewish Trust Corporation“ wurde Anfang 1950 ins Leben gerufen auf Initiative deutsch-jüdischer Repräsentanten, zu denen schon damals, als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, Heinz Galinski zählte. Einer der Wortführer bei der Gründung war der Hamburger Jurist Hendrik George van Dam, der von 1951 bis 1973 als Generalsekretär des Zentralrats fungierte und gleichzeitig im Vorstand der „Jewish Trust Corporation“ saß. Ebenfalls zum Vorstand dieser jüdischen Treuhandgesellschaft zählten unter anderen auch der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburg, Harry Goldstein, und der international angesehene Rabbiner Leo Baeck.
Bunker von Nazis auf dem Gelände
Daß sie, deutsche Juden allesamt, im Jahre 1950 über das Ottenser Friedhofsgelände ein völlig anderes religiöses Urteil fällten, als es der jüdischen Orthodoxie heutzutage recht ist, kann niemanden verwundern. Die führenden jüdischen Männer im Nachkriegsdeutschland waren überwiegend assimilierte liberale Juden. Ein weiterer Grund für den Verkauf des Geländes mag darin gelegen haben, daß im Jahre 1950 nur wenige Überlebende daran glaubten, daß in Deutschland wieder jüdische Gemeinden entstehen könnten. Noch in den fünfziger Jahren hießen jüdische Gemeinden in Deutschland generell „Liquidationsgemeinden“ und galten als reine Übergangslösung für die Alijah nach Israel. Deutschland war damals noch weit entfernt von Wirtschaftswunder und Wohlstand. Großstädte wie Hamburg waren überwiegend zerbombt und ausgebrannt. Angesichts von Millionen Toten schien das alte jüdische Recht auf ewige Ruhe zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt zu sein.
1934 wurde der Friedhof für fünf Jahre aus Platzgründen geschlossen; dann eigneten sich die Nationalsozialisten das Grundstück an. 1942 machten sie den Friedhof dem Erdboden gleich und errichteten darauf zwei Bunker. Grabsteine wurden dabei zur Fundamentierung verwendet oder mit dem Bauschutt abgetragen.
Von Juden wird kaum noch erwähnt, daß der damalige Vorsitzende der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg, Max Plaut, diese Enteignung nicht tatenlos hinnahm. Zusammen mit dem nichtjüdischen Rechtsanwalt Hans W.Hertz sammelte er unter Gemeindemitgliedern und Hamburger Nichtjuden das Geld für eine Umbettung, so daß einige hundert Tote auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs in Hamburg-Ohlsdorf überführt und dort mit rabbinischen Würden erneut beerdigt wurden.
Bereits im Jahre 1950, als sich in der weitgehend zerstörten Hansestadt langsam wieder eine kleine jüdische Gemeinde bildete, kam es mit der Stadtverwaltung auch zu Verhandlungen wegen des ehemaligen Friedhofareals im zerbombten Ottensen. Die Stadt gab das zu Unrecht beschlagnahmte Eigentum an die jüdische Gemeinde zurück — und die verkaufte es auf Anraten der „Jewish Trust Corporation“ an die Westelbische Grundstücksgesellschaft. So gelangte es an den Kaufhauskonzern Hertie, der sich dazu verpflichtete, eventuell noch vorhandene Gebeine auf den jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf zu überführen.
40 Jahre lang nahm jüdischerseits niemand Anstoß an diesem Vorgang; auch orthodoxe Juden schwiegen dazu. Das änderte sich auch nicht 1988, als das weitgehend zubetonierte Gelände mitsamt dem stillgelegten Kaufhaus Hertie von der Hamburger Grundstücksgesellschaft Büll&Liedtke erworben wurde, mit dem Plan, an dieser Stelle erneut ein Einkaufszentrum zu errichten. Ehe die Stadt Hamburg im Dezember 1991 dem Baugenehmigungsverfahren zustimmte, wandte sie sich erneut an die örtliche jüdische Gemeinde. Die stellte nur die Bedingung, daß die Ausschachtungsarbeiten in Anwesenheit eines jüdischen Friedhofsexperten aus Tel Aviv vorgenommen werden sollten, damit eventuelle Grabreste nicht übersehen würden. Die Grundstückseigner waren sogar bereit, die Kosten dafür zu tragen, und verpflichteten sich, überall dort, wo noch Gräber vermutet werden, von Hand ausschachten zu lassen.
Erst 1991 ein plötzlicher Sinneswandel
Erst Ende 1991 vollzog sich ein seltsamer Wandel. Auf einmal erinnerte man sich jüdischerseits wieder an die ursprüngliche Bedeutung des Geländes. In einem Schreiben an den Ersten Bürgermeister Dr.Henning Voscherau erklärte der Vorsitzende des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, die Gefühle der Juden in der ganzen Welt seien „durch die Schändung des Friedhofes zutiefst verletzt“ worden. Und als habe er nie von dem Verkauf jüdischer Friedhöfe im zerbombten Nachkriegsdeutschland gehört, appellierte er an Hamburgs Senat, „alles Menschenmögliche zu unternehmen, um künftige Schritte zu verhindern, die im Widerspruch zu dem Respekt stehen könnten, den der Mensch den Verstorbenen schuldet“.
Der Grund für diesen verblüffenden Meinungswechsel beim Zentralrat und der Jüdischen Gemeinde Hamburg ist nicht etwa in der Hansestadt zu suchen, sondern im weit entfernten Venedig. Dort befand eine internationale Rabbinerkonferenz, nach jüdischen Religionsvorschriften sei die Bebauung des Friedhofgeländes unter gar keinen Umständen zulässig. Und obwohl die jüdische Gemeinschaft in Deutschland sich rühmt, in ihren Einheitsgemeinden das ganze Spektrum jüdisch-religiöser Auffassungen zuzulassen, beugte sie sich nicht nur dem Druck der internationalen jüdischen Orthodoxie, sondern sogar den Forderungen einer auch in der jüdischen Welt unbedeutenden Minderheit ultra-orthodoxer Fundamentalisten: den Männern der „Athra Kadischa“ („Der heilige Ort“).
Mit Europa oder gar mit Deutschland hat diese kleine Gruppe überhaupt nichts zu tun; sie wurde vielmehr 1959 als eingetragener Verein in Israel gegründet. Der ungeheure Bauboom und das Interesse an Archäologie im Heiligen Land riefen einige besonders fromme Juden auf den Plan, selbst jahrtausendealte Grabstätten noch zu schützen. Geschäftsführer der „Athra Kadischa“ ist heute Rabbiner David Schmidl aus dem ultra-orthodoxen Vorort Bnei Brak bei Tel Aviv. Eine Zweigstelle unterhält der Verein in New York, seine europäischen Mitglieder leben meist in Belgien, England und der Schweiz. Finanziert wird „Athra Kadischa“ überwiegend durch Privatspenden orthodoxer Kreise in der Diaspora. In Deutschland hatten die streitbaren Männern im Kampf um Ottensen ihren allerersten Auftritt, der selbst für die Jüdische Gemeinde Hamburg völlig überraschend kam.
Doch anstatt diesen rein innerjüdischen Konflikt unter sich auszutragen, machten Vertreter des Zentralrats daraus ein Politikum und wurden Ende Januar im Bonner Auswärtigen Amt bei Staatssekretär Dieter Kastrup vorstellig. Zusätzlich intervenierten 34 amerikanisch-jüdische Kongreßabgeordnete bei Kanzler Kohl, und außer Heinz Galinski debattierte auch eine siebenköpfige internationale Rabbinerdelegation mit dem Chef der Hamburger Senatskanzlei, Thomas Mirow, über das umstrittene Grundstück.
Eklatanter Mangel an Wort und Tat
Auffallend bei diesen Auseinandersetzungen war der eklatante Mangel an unmißverständlichen Worten und aufrechten Taten. Der Zentralrat fürchtete offenbar das vernichtende Urteil orthodoxer Glaubensbrüder in aller Welt, die jüdische Gemeinschaft in Deutschland habe sich nicht an die Religionsgesetze gehalten. Die Politiker in Hamburg und Bonn hatten Angst, eine offene Auseinandersetzung mit strenggläubigen Juden könne dem Ansehen Deutschlands, vor allem aber ihrem eigenen Ansehen, empfindlichen Schaden zufügen. Der Vorwurf, sie setzten das Werk der Nationalsozialisten fort, schüchterte offensichtlich beide kritisierten Parteien ein und hielt sie davon ab, von Anfang an unmißverständlich auf die eindeutige Rechtslage zu verweisen. Auch nach dem Jerusalemer Urteilsspruch hüllen sich beide Seiten in Schweigen. In einer dürftigen Pressemitteilung ließ die Jüdische Gemeinde Hamburg lediglich verlauten, die Proteste der „Athra Kadischa“ seien „kontraproduktiv“ und ein „inadäquates Mittel der Auseinandersetzung“; sie befürworte eine Bebauung nach wie vor.
In denkbar scharfem Kontrast zum Zaudern von Zentralrat und Politikern steht der unermüdliche Einsatz der bestens durchorganisierten und mit reichlich Geldmittel versehenen Männer der „Athra Kadischa“, die aus allen Teilen der Welt nach Hamburg flogen. Wie auf Kommando traten sie in den vergangenen Wochen regelmäßig vor dem Baugelände an — nie ohne zuvor die Presse geladen zu haben. Ihre dankbarsten Bewunderer sind die Grünen, die sonst nicht müde werden, israelische Falken mit deutschen Nazis zu vergleichen.
Die Grün-Alternative-Liste (GAL) Hamburgs protestiert seit Jahren gegen einen „Konsumtempel“ auf diesem Grundstück und fordert stattdessen Wohnhäuser. Mit harten Worten setzte die GAL sich von führenden Politikern ab: Friedhof und anliegende Straßen in Ottensen würden wieder einmal „judenfrei“ gehalten, klagte die GAL-Abgeordnete Anna Bruns in einer hitzigen Senats-Debatte und appellierte: „Es darf keinen Tag so weitergehen, daß Juden gnadenlos abtransportiert werden!“ Daß die Polizisten von den strenggläubigen Demonstranten als „Nazi-Schergen“ beschimpft, bespuckt und getreten werden — das erwähnte Anna Bruns mit keinem Wort. Auch nicht, daß die Polizisten ihre Mannschaftswagen den Orthodoxen zum Gebet zur Verfügung stellten und die auf der Straße Sitzenden bat, freiwillig den Platz zu räumen. Bilder von gequält dreinschauenden Polizisten, die bärtige Protestierer von der Großen Rainstraße in Ottensen tragen, gingen um die ganze Welt.
Ob die Toten von Ottensen in naher Zukunft zur Ruhe kommen werden, ist nach dem Urteilsspruch des Jerusalemer Rabbis fraglich. Eines aber steht schon jetzt fest: Den Lebenden ist durch die Demonstrationen erheblicher Schaden zugefügt worden; die Stimmung in Hamburg ist nachhaltig vergiftet. Gerüchte über jüdische Entschädigungsforderungen kursieren. Doch nicht nur die Ottenser Anrainer kritisieren die Forderungen der Juden, auch die Frommen der „Athra Kadischa“ erheben böse Vorwürfe gegen ihre Hamburger Glaubensbrüder. Sie verweisen dabei auf angebliche Klüngeleien zwischen Senat und Grundstückseigner einerseits und zwischen Senat und Jüdischer Gemeinde andererseits. „Wir glauben, daß die Gemeinde die Investoren schützt. Vielleicht gibt es da wirtschaftliche Verflechtungen. Wir sind dabei, das zu untersuchen“, orakelten die Männer von der Athra Kadischa in aller Öffentlichkeit. Sie lassen sich auch nicht von Hamburger Juden überzeugen, die inzwischen in Jerusalem leben. Diese schrieben nämlich in einem Brief, daß die Umbettung jüdischer Gebeine ein uralter Brauch der Frommen in Deutschland sei: „So geschehen auf den mittelalterlichen Friedhöfen in Frankfurt am Main, Köln und Prag.“ Und noch 1937 geschehen in Hamburg selbst, müßte man hinzufügen. Denn damals wurden im Zuge einer Stadtsanierung diverse Friedhöfe aufgelassen, darunter auch der zentrale Friedhof im jüdischen Viertel am Grindel. Dort stehen heute Wohnhäuser — ohne daß auch nur ein einziges Mitglied der „Athra Kadischa“ darüber Klage führte.
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