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Erfahrung der Unwichtigkeit

Das deutsche Zeitungswesen nach dem Mauerfall: eine deprimierende Bilanz  ■ Von Claus Koch

Das deutsche Zeitungswesen hat sich von seiner Nicht-Anwesenheit bei der Wiedervereinigung und im Umbruchjahr 1989 noch nicht erholt. Es krankt seitdem an einer Beschädigung, die nicht heilen will. Weil die Malaise in der durch die Wiedervereinigung beschädigten Öffentlichkeit in Deutschland sitzt, läßt sich dagegen nicht leicht etwas ausrichten. Um es banaler zu sagen: die deutsche Presse kommt seit jenem Herbst nicht mehr mit. Was sich daran zeigt, daß sich an ihr so gut wie nichts geändert hat.

Dieses Zeitungswesen, um es gleich zu sagen, besteht allein aus westdeutscher Substanz. Im Osten gibt es, bis auf zwei oder drei winzige Ausnahmen, nur namenlose Zeitungstitel, das darunter Gedruckte trägt zur Öffentlichkeit nichts bei, ist für den politischen Zustand Deutschlands irrelevant. Daran wird sich so bald nichts ändern lassen.

Das Jahr 1989 gehörte zuerst dem elektronischen Bildmedium, es konnte kaum anders sein. Das Fernsehen konnte aus diesem Jahr nicht viel machen. Über die gratis gelieferte Vordergrund-Dramatik der Szenen vor den Botschaften, der durch Dresden fahrenden Züge und der Leipziger Massenströme kam es nicht hinaus. Es konnte sich damit begnügen, den Geist dieser Revolution wider Willen von den Spruchtafeln abzulichten.

Der Rest war gut ausgeleuchtetes Mauerfall-Pathos. Es zeigt sich nun, wie gründlich der dokumentarische Filmjournalismus ausgerottet ist. Er hatte zuletzt, im Fall von Saigon, den Niedergang des amerikanischen Imperialismus fürs historische Auge aufbewahrt. Von der Auslöschung der DDR wird wenig mehr bleiben als diese stereotyp abphotographierten Riesenfresken, die schon bald wie Inszenierungen wirken werden.

Das Fernsehen, das zeigt sich einmal mehr in großer Stunde, kann nicht mehr, als an Ort und Stelle zu sein. Da es zur Distanz nicht fähig, diese ihm auch nicht erlaubt ist, kann es nicht geistesgegenwärtig sein, kann nicht das Einmalige der Situation begreiflich machen. Wenig später, im Golfkrieg, hat die CNN-Diktatur bewiesen, zu welcher Auslöschung jeglicher Geistesgegenwart das Fernsehen fähig ist.

Doch das Jahr 1989 wurde auch nicht zur Stunde der Presse, des gedruckten Wortes. Ihm wäre es zugekommen, aus dem Zwang zur Distanz den Vorteil intellektueller Gegenwärtigkeit zu machen. Wie wenig freilich die Presse in der Zeit präsent war, erweist sich aus der Rückschau. Welcher eindringlichen Berichte, welcher großartigen Leitartikel, welcher scharfer Analysen kann man sich drei, zwei Jahre später noch erinnern? Welche Namen erwarben sich publizistischen Glanz? Welche Zeitung machte auf sich aufmerksam, indem sie die Fadenkreuze zur Orientierung neu einstellte? Wer fiel, andererseits, vor Aufregung aus der Rolle? (Es seien denn die Schirrmacher-Buben des 'FAZ‘-Feuilletons, die freilich unverhofft erst so zur richtigen Rolle kamen.) Was der einzige Timothy Garton Ash mit seinen Berichten über den osteuropäischen Rand des zerfallenden Imperiums für die englische und die amerikanische Presse leistete — welcher deutsche Publizist hätte, für dieses deutsche Territorim, nur Annäherndes aufzuweisen?

Kurz, das deutsche Zeitungswesen unterschied sich in seinen Artikulationen der deutschen Ereignisse so gut wie nicht von der politischen Klasse. Und von deren sprachlosen Äußerungen, die schon damals kaum drei Tage hafteten, bleibt auch im nachhinein nichts aufzubewahren. Bleibt, außer ein paar zum Alibi verurteilten Weizsäcker-Sätzen, kein Text fürs deutsche, gar fürs europäische Geschichtsbuch.

Daß der Wiedereintritt Deutschlands in „die“ Geschichte, zumindest ins Zentrum Europas, so unheroisch und spracharm verlief, mag man als Beweis seiner geglückten Integration in einen insgesamt provinzialistischen Westen begrüßen. Die übrigen Europäer hat diese Unlust zum Einen und Ganzen als ein Indiz für die deutsche Apolitie zwar irritiert, wobei einige Heuchelei im Spiel war. Über die deutsche Unfähigkeit zu nationaler Erhebung waren dann doch alle heilfroh.

Für die Schreibfähigen im Lande war die Tatsache, daß sie der in politischer Tatenarmut auf dem Verwaltungswege vollzogenen Vereinigung nur zusehen konnte, eine schlimme Niederlage. Wenn an der windigen These vom Ende der Geschichte etwas dran ist, so haben es die Deutschen, indem sie ihre Vereinigung für sich selbst zum politischen Nicht- Ereignis zu machen verstanden, vorexerziert. Damit aber sind die Intellektuellen, die im Verrat wie im Widerstand dem totalitären Zeitalter die Sprache geben mußten, vom Spielfeld verwiesen.

Diese Erfahrung der Unwichtigkeit, der von vornherein nicht einmal gebotenen Chance, Geistesgegenwart beweisen zu können, bedrückt auch die Medien des Wortes insgesamt. Aus dieser Benommenheit hat sich die Presse bis heute nicht lösen können. Und sie muß registrieren, daß ihre Geltung in diesen Jahren immer geringer geworden ist — vor allem in den Ländern des deutschen Ostens, der doch so hungrig nach dem freien Wort gewesen sein soll. Die rückläufigen Abonnenten- wie Leserzalen der sogenannten Hauptstadtpresse verweisen darauf.

Nicht wenige von uns hofften damals, die Weltwende und der Vereinigungsschock würden neue Kräfte der Wahrnehmung und der Sprache entbinden, würden eine neue Darstellungslust erzeugen. der Journalisten-Journalismus schien ja ebenso bloßgestellt und hohl wie die Politiker-Politik. Wem überhaupt am Schreiben lag, der sah die große Herausforderung zum Greifen nah, man brauchte sie nur aufzunehmen. Und die Gründungsprojekte florierten.

Diese Hoffnung währte so lange wie die Erwartung, die Vereinigung könne mit politischen Mitteln bewerkstelligt werden — was verlangte, die politische Realverfassung der alten BRD in Bewegung zu bringen. Damit war es nach noch nicht einmal einem Jahr vorbei, und die Projekte welkten dahin. Es blieb wenig anderes übrig als das Zurück in die ungeliebten Positionen in den unveränderten Ressorts.

Auf besondere Weise demoralisierend für das deutsche Zeitungswesen ist die Erfahrung, daß es mit diesem zugefügten Osten nichts anfangen kann. Höchstens zwei Jahre hat es gedauert, da war alles auskommentiert, leerbeschrieben. Nun gibt es dort nicht mehr viel, was zu entdecken und wiederzugeben wäre, und damit hängt wohl auch zusammen, daß die Presse dieser Region noch immer wie halbtot wirkt.

Der Osten in seiner Verwüstung bringt nur wenig Aktualität hervor, die für den Westen interessant wäre. Anders gesagt, der Osten ist unterkomplex, und das erzeugt im Westen Langeweile oder Befremdung. Dieser Unterkomplexität sind auch die Mittel des journalstischen Metiers nicht gewachsen.

Wenig ist schwerer zu beschreiben als der Zustand einer Nicht- Gesellschaft und ihre Institutionenlosigkeit. Auch das hastig vom Westen her übergestülpte Institutionenkorsett ändert nichts daran, daß die Population auf dem überlackierten Ost-Territorium noch längst keine Gesellschaft darstellt. Davor muß das journalistische Handwerk versagen. Rassistische Brutalitäten in Hoyerswerda zum Beispiel sind, abgesehen vom momentanen Schrecken, nur ein zweitklassiger Stoff gegenüber Rassenkonflikten in Südkalifornien. Hier eine soziale Regression in einer Region der Hochtechnologie, beherrscht von einer breiten Mittelschicht mit Hochschulausbildung, in einer multirassischen Kulturlandschaft, deren Bewohner zumeist aktive Mitglieder irgendeiner Kirche sind. Dort nur eine horizontal verelendete Bevölkerung, Regression schlechthin in einer sozialen Trümmerlandschaft. Kein Zweifel, wo da die modernere Aktualität liegt. Aus demselben Grund ist auch der Tarifkampf der ÖTV, ein strategisch geplanter Konflikt in einem sehr komplizierten Gesellschaftsgefüge, viel interessanter als ein Streik auf Rostocker Werften, wo es für viele um die ganze Existenz geht. Um den letzteren in die Zeitung zu bringen, braucht der Journalist eine starke Sprache, die sich aus Imagination und Erschütterungsfähigkeit speist. Fürs erstere braucht er vor allem Expertentum und Fähigkeit zur Analyse. Klar, was da den Vorrang der Aufmerksamkeit erhält, ihn wenigstens auf längere Zeit behält: das schwerer zu Erklärende und Facettenreichere, in dem sich die gesamte westliche Gesellschaft spiegeln kann.

Zweierlei Not leidet dieser deutsche Osten: Not an Gerechtigkeit, eine Not, deren stummer Schrei hüben und drüben alle lähmt. Und Not an einem tüchtigen Sozialingenieurswesen für alle Lebensbereiche, das erst einmal eine Gesellschaft neu errichten, sie gehfähig machen muß. Für beides ist das Zeitungswesen des Westens — und es gibt eben kein anderes — nicht besonders kompetent.

Daß wir mit der ostdeutschen, dieser noch vormodernen Gesellschaft nicht recht umgehen können, zeigt uns, was wir eigentlich ohnehin wissen: Daß unser Geschäft notwendig auch ein unfaires, ja herzloses ist — aber auch, daß diese déformation professionelle unvermeidlich ist, wenn es ums Metier, um unsere Berufstüchtigkeit geht.

Ob und wann es in Deutschland eine gleichschultrige Presse gibt und damit eine politische Öffentlichkeit aller Deutschen, ist gewiß wichtig. Ebenso wichtig aber ist, daß die Presse mit den Verwerfungen im Westen, mit dem unaufhaltsamen Niedergang der politischen Demokratie und den Erschütterungen des Wohlfahrtsstaates durch den Sog der Weltmächte auf die Höhe der Zeit kommt. Denn ihr Unbehagen daran, daß sie nicht mehr mitkommt, geht ja, mehr noch als vom Osten, vom Westen aus. Und vor allem der politische Journalismus weiß, daß für die Orientierung in der zunehmenden Unübersichtlichkeit sein Berufsgepäck veraltet ist. Es besteht heute zu mehr als 80 Prozent aus der Kenntnis des politischen Personals und der Abläufe in den Bürokratien, zu weniger als 20 Prozent aus Sachkenntnis: Die Antwort des Journalisten-Journalismus auf die Politiker-Politik, die jetzt fast überall ziemlich am Ende ist.

Wie eine zeitgemäße journalistische Antwort, natürlich in einer ganz anderen und neuen Zeitung, aussehen könnte, dafür gibt es ein geheimes Modell, ein Projekt. Es spukt, nicht erst seit dem Fall der Mauer, in den Köpfen von ein paar hundert Intelligenz-Journalisten und sieht ungefähr so aus: Eine Tageszeitung, gemacht mit der Kompetenz einer Wochenzeitung, oder auch nur eine Wochenzeitung, gemischt aus mehreren Elementen. Ein Stück 'Economist‘, ein Stück 'New York Review of Books‘, einiges von 'Repubblica‘, auch ein Element 'Monde Diplomatique‘, und ebenso wäre dem 'Wall Street Journal‘ einiges abzugucken. Nur wenig Deutsches, und wenn, dann bereits Untergegangenes: 'Gegegnwart‘, frühe 'Frankfurter Hefte‘. So ließen sich Inspirationen für die neue Zeit geben, so könnte man endlich mitmachen.

Gewiß, eine Utopie von Zeitungsschreibern, auf die sich Kapitalgeber schwerlich einlassen werden. Merkwürdigerweise läßt sie sich, seit Jahren schon, nicht ganz aus den Köpfen drängen. Was unter anderem zeigt, daß eine wirklich interessante deutsche Zeitung ganz weit im Westen, mit westlichem Sachverstand für westliche Ansprüche zu machen wäre.

Freilich wird Berlin meist als Ort dieses großen Projekts mitgeträumt. Aber das hat vor allem sentimentale Gründe, ist fern jeder Realität. Denn Berlin liegt jetzt tief im Osten. Für einen journalistischen Aufbruch in eine neue politische Öffentlichkeit fehlt es ihm an jeglicher Grundlage. Kein Finanzkapital und kein Industriekapital in der Stadt, keine Gewerkschaftszentrale und keine Werbeagentur von Rang, kaum erstklassige Staatsbürokratien — und also auch keine moderne Bewohnerschaft mit hohen Ansprüchen. Eine Zahl sagt schon fast alles. Ganz Berlin benötigt heute nicht mehr als 30.000 Exemplare überregionaler Zeitungen, die hier, da die lokale Presse Maßstäbliches nicht bietet, für die führenden Schichten die Erstzeitungen sein müssen. Gerade so groß ist also die Informations- und Kommentarnachfrage sämtlicher Managements und Intelligenzler, die Gäste der Metropolen eingeschlossen. Wer möchte spekulieren, daß sich das in den nächsten fünf oder auch zehn Jahren groß verändern wird?

Wenn sich im Westen Deutschland nichts bewegt, wenn sich dort keine Öffentlichkeiten formieren, die auch eine andere Presse verlangen — von Berlin, das noch auf lange Zeit eine Stadt des Ersatzes bleiben muß, wird dergleichen nicht ausgehen.

Vorabdruck eines Vortrags, den der Medienkritiker Claus Koch morgen anläßlich der Gründung der taz-Genossenschaft hält.

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