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„Das Phantasia-Land Curitiba zerstören“

In Brasiliens Musterstadt leben 200.000 Menschen in Favelas/ Ein Favela-Arzt ist auch der Führer der Opposition  ■ Aus Curitiba H.-J.Tenhagen

Downtown Curitiba, keine fünfhundert Meter von den Hochhäusern und den schicken Boutiquen entfernt, liegt das andere Curitiba. Marode Holzhütten ohne fließend Wasser und Kanalisation, Stromleitungen, die locker über den Trampelpfaden hängen und Hunde, die im Müll herumschnüffeln. Vila Pinto, eine ganz normale lateinamerikanische Favela in der Musterstadt.

„Das Phantasia-Land Curitiba zerstören.“ — Darum geht es Florisvaldo Fiers, den die Leute hier alle nur Doutor Rosinha rufen. Der Arzt, der lange in einer Favela am Stadtrand gearbeitet hat, steht für das andere Curitiba, für die annähernd 200.000 der 1,5 Millionen Curitibaner, die in den Favelas leben müssen. Er kennt die schlecht ernährten Kinder und die sanitären Verhältnisse, die die Diarrhoe zum größten Gesundheitsproblem machen. „Wenn die Cholera auch hierhin kommt, wird sie sich rasend schnell ausbreiten.“

Jetzt ist Rosinha der Spitzenkandidat der einzigen Opposition in der Millionenstadt, der Arbeiterpartei PT. „Im Stadtrat haben wir vier Sitze, und dann gibt es noch zwei andere Stadträte, die Opposition sind, das macht 6 von 33“, so Rosinha. Bei solchen Mehrheitsverhältnissen laufen Informationen und Entscheidungen fast naturgemäß an der Opposition vorbei. „Wir bekommen die Sachen häufig nicht einmal zu sehen.“

„World Urban Forum“ ohne Opposition

Auch im neuen Curitiba, der weltbekannten Musterstadt des Bürgermeister, Weltbürgers und Architekten Jaime Lerner, funktionierten die alten Herrschaftsstrukturen noch, klagt Rosinha. Es sei normal, daß die Opposition nicht zum „World Urban Forum“, zum internationalen Städtetreffen im Vorfeld des Rio-Gipfels, in seiner Heimatstadt eingeladen werde. Auch deshalb hätten Hunderte Menschen vor dem Tagungshotel demonstriert. Doch diese Strukturen will er aufbrechen, wenn er denn im Herbst zum Bürgermeister gewählt wird.

Das wird schwierig. Denn Lerner und seine Mannschaft sind in Curitiba populär. „Er ist ein guter Technokrat. Die Leute kennen ihn aus Fernsehen und Radio, und er ist einer, der sich verkaufen kann“, räumt Rosinha ein. Das sei mehr als die meisten brasilianischen Bürgermeister zu bieten hätten.

Zwar gebe es Hinweise, daß Firmen bei den berühmten Röhren, einem neuen Einstiegssystem für die Busse der Stadt, sechsmal zu hohe Preise genommen hätten. Insgesamt aber sei selbst die Korruption in Curitiba nicht allzu offensichtlich.

Doch hier liege — so der Oppositionsführer — auch eine Chance. Curitiba sei einfach reicher als der brasilianische Norden. Die vor zwanzig Jahren begonnene Industrieansiedlung bringe jetzt viel Geld. Und die Mittelklasse, häufig Nachfahren europäischer Einwanderer, werde stärker.

„Mit dem Geld, das Curitiba hat, kann man die Prioritäten anders setzen“, sagt Rosinha. „Was nützt es den Armen, wenn sie mit einem Bus des wundervollen Bussystems fahren, aber immer noch in einer ungesunden Holzhütte ohne Kanalisation leben müssen.“ Nur 46 Prozent der Curitibaner verfügten über einen Abwasseranschluß, und nur bei 25 Prozent würde das Abwasser wirklich behandelt.

Rosinha kämpft vor allem gegen die Lethargie der Leute. Die Stadtverwaltung gilt hier nach wie vor als Obrigkeit. Die Soziologin Ligia Mendonca: „Die Leute können sich hier nicht als Subjekt erfahren, als Menschen, die gemeinsam etwas erreichen können“. Mendonca hat zusammen mit Rosinha vor zwölf Jahren die Arbeiterpartei PT in Curitiba gegründet.

Umsiedlung der Armen an den Stadtrand

Rosinha und Mendonca versuchen auch mit der Hilfe der Kirche derzeit eine massive Umsiedlung der Armen an den Stadtrand zu verhindern. 2.000 Familien seien schon umgesiedelt.

Die Stadtverwaltung hat dort ein aufgeschüttetes Gelände, bislang ohne Stromanschluß, fließend Wasser und Kanalisation, zur Verfügung gestellt und versucht, immer mehr Arme mit sanftem Druck zum Umziehen zu bewegen. Das ist ihr Thema, und hier können sie erste Erfolge verbuchen. Die Leute sollen in der Stadt bleiben, dort soll ihnen geholfen werden.

„Es macht keinen Sinn, das Gute schlechtzumachen“, sagt Mendonca über Lerner. Die Müllpolitik des Bürgermeisters sei in der Tat vorbildlich. Aber die sozialen Probleme bleiben. Die Hälfte der Kinder schwänzt nach der fünften Klasse die Schule und 15 Prozent verlassen die Schule ganz.

Bürgermeister Lerners Bildungsprogramm erreicht sie offensichtlich nicht. „Und Curitiba ist keine sichere Stadt. Im vergangenen Jahr sind auch in Curitiba 110 Kinder ermordet worden“, klagt Mendonca.

Eineinhalb Stunden und einige Favelas später besuchen wir eine der rund 60 Polikliniken der Stadt. Es regnet in Strömen. Das Gesundheitszentrum Enrico Verissimo ist relativ leer. Nur wenige Mütter mit Kindern sitzen in den Warteräumen des ästhetisch wirkenden, verputzen Baus mit Holzdecke. „Wenn es regnet, kommen die Mütter aus den Favelas mit ihren Kindern nur in wirklich ernsteren Fällen“, so Rosinho.

Leider regnet es auch in der Klinik. Die Leiterin öffnet die Tür eines Behandlungsraums. Dort plätschert es von der Decke. „Sechs Jahre ist das Haus alt“, beklagt sich die Frau, und jetzt diese Probleme.

Am Flughafen von Curitiba liegen am Schalter der staatlichen brasilianischen Fluglinie Varig Info-Faltblätter aus. „Wie erkenne ich Cholera“, heißt es da. Und: „Gehen sie bei ersten Anzeichen sofort zum Arzt.“

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