Frankreichs Regierung braucht Geld

Um die Staatskasse zu füllen, vergessen die Sozialisten ihr Dogma und privatisieren Unternehmen  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„Ni-ni“, zu deutsch „weder-noch“ — auf diese Kurzformel hatten Frankreichs Sozialisten im Wahlkampf 1988 ihr wirtschaftspolitisches Programm gebracht. Weder eine Verstaatlichung noch eine Privatisierung von Unternehmen komme in Frage, versprach Präsident Francois Mitterrand damals und geißelte die Privatisierungspolitik der bürgerlichen Regierung unter Premierminister Jacques Chirac (1986-1988).

Vier Jahre später wollen die Sozialisten davon nicht mehr viel wissen. Der Countdown für die Parlamentswahlen im Frühjahr 1993 läuft, und um ihr Image aufzubessern, braucht die Regierung dringend Geld. Mit der Privatisierung von Staatsbetrieben, so glaubt man in der Regierungspartei, lasse sich die leere Staatskasse wieder füllen.

Der Druck ist groß: Schließlich bringt die schwache Konjunktur nur geringe Steuereinnahmen; das Haushaltsdefizit, das 1991 130 Milliarden Franc (43 Mrd. DM) betrug, dürfte in diesem Jahr auf 150 Milliarden Franc (50 Mrd. DM) klettern. Noch schlimmer ist jedoch die hohe Arbeitslosigkeit. Um die Zahl der Arbeitslosen wenigstens unter drei Millionen zu halten, hat die Regierung kürzlich teure Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angekündigt.

Im vergangenen Herbst rückte Mitterrand von seinem früheren Glaubensbekenntnis ab und empfahl der Regierung, privates Kapital an öffentlichen Unternehmen zu beteiligen und die Minderheitsbeteiligungen einiger staatlicher Betriebe zu verkaufen. Gesagt, getan. Im November bot die Regierung der inzwischen geschaßten Edith Cresson 20 Prozent des Staatskapitals am „Credit local de France“ zum Verkauf an, 1,5 Milliarden Franc flossen in die öffentlichen Kassen. Anfang März verkündete Pierre Bérégovoy, damals noch Wirtschaftsminister, heute Premierminister, daß 2,3 Prozent des Kapitals des größten französischen Ölkonzerns Elf Aquitaine an der Börse verkauft werden sollen; der Erlös wird auf zwei Milliarden Franc geschätzt. Der Staatsanteil an Elf Aquitaine verringert sich damit auf 51,5 Prozent. Zur Zeit debattiert das Parlament über ein Gesetz, das es dem Staat erlauben soll, seinen Anteil an öffentlichen Versicherungen (UAP, AGF, GAN) von bisher 75 Prozent auf 50 Prozent zu verringern.

Doch das sind kleine Operationen, verglichen mit der jüngsten Entscheidung der Regierung: Als echter Überraschungscoup schlug die Ankündigung der bereits unter Cresson eingefädelten Teilprivatisierung des Ölmultis Total Mitte Mai ein. Der Verkauf dürfte die Staatskasse auf einen Schlag um zehn Milliarden Franc bereichern. Mit einem Umsatz von 143 Milliarden Franc und einem Nettogewinn von 5,8 Milliarden Franc im vergangenen Jahr rangiert Total auf dem achten Rang der weltgrößten Unternehmen. Es ist eine der wenigen französischen Firmen, die nicht nur in Paris, sondern auch an den Börsen von London und New York notiert werden.

„Eine wahre Kehrtwende in der Teilprivatisierungspolitik der Linken“, meinten mehrere Kommentatoren zu der Operation, deren Vorbereitung völlig geheim geblieben war. Die jetzt zum Verkauf angebotenen Anteile befanden sich seit über 60 Jahren in Staatsbesitz. Nach Ansicht der Kritiker greift der Staat damit nach den „Kronjuwelen“. Premierminister Bérégovoy bestreitet jedoch, daß er das Dogma des „ni-ni“ angetastet hätte. Tatsächlich umschifft Bérégovoy diese Klippe, denn einerseits ist Total seit jeher ein privates Unternehmen, da die Besitzanteile zu 61 Prozent bei privaten Anteilseignern liegen.

Andererseits behält die Regierung Einfluß auf den Konzern. Zwar wird der Staat nach dem Verkauf nur noch mit fünf Prozent direkt an dem Ölmulti beteiligt sein, und weil die staatlichen Unternehmen ihre Kapitalanteile von zwölf auf zehn Prozent reduzieren sollen, sinkt auch die staatliche Kontrolle an dem Ölkonzern von bisher insgesamt 34 auf 15 Prozent. Die Regierung behält aber das Recht auf Bestätigung des Vorstandsvorsitzenden; zudem will sie weiterhin zwei Vertreter (bisher waren es vier) in den zehnköpfigen Verwaltungsrat schicken. Die staatliche Kontrollmacht bei Total ist historisch verankert, sie geht zurück auf eine Konvention über die Ausbeutung der Ölfelder in Mesopotamien aus dem Jahr 1924.

Der Erlös aus den Teilprivatisierungen soll einer guten Sache dienen: dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Mitterrand hatte Bérégovoy im April nicht zuletzt deshalb zum Regierungschef ernannt, weil nur ihm zugetraut wird, daß er die Arbeitslosigkeit senken kann, ohne die Börse zu beunruhigen. In seiner Antrittsrede gab Bérégovoy ein ehrgeiziges Versprechen: Das Arbeitsamt werde jedem der 920.000 Langzeitarbeitslosen bis zum Oktober einen Job oder eine Fortbildung anbieten. Spezielle Maßnahmen für Jugendliche, Steuernachlässe für die vorschriftsmäßige Anmeldung von Putzfrauen oder Tagesmüttern sowie Vorruhestandsregelungen sollen die Arbeitslosigkeit lindern und die Statistiken aufpolieren. Bérégovoys Vorgängerin Cresson hatte für einen Teil dieser beschäftigungspolitischen Maßnahmen bereits 7,5 Milliarden Franc veranschlagt.

In Frankreich fragt man sich jetzt, ob Bérégovoys Entschlossenheit zum Verkauf von Staatsanteilen weitergeht. In persönlichen Gesprächen gab er immer wieder zu verstehen, daß er das Dogma vom „ni-ni“ am liebsten über Bord werfen und echte Privatisierungen vornehmen möchte. Wenn er Mitterrand nicht als Wahllügner bloßstellen will, sind ihm die Hände bis zur nächsten Volksabstimmung gebunden. Doch die Ära Mitterrand neigt sich dem Ende zu. Unter Bérégovoys Einfluß haben sich die Sozialisten dieser Tage entschlossen, die alte Ideologie endgültig über Bord zu werfen. Im „Vertrag für die Legislaturperiode 1993-1998“, den die Parteiführung Ende Mai verabschiedete, verkünden die Sozialisten ihre neue, rein pragmatische Doktrin namens „et-et“, „sowohl als auch“: Für die Partei ist nun alles möglich, sie will Verstaatlichungen und Privatisierungen zulassen.

„Der Staat soll seine Rolle als Aktionär nachgiebig und ohne Dogmatismus wahrnehmen“, heißt es in dem Programm. Nach Ansicht des Industrieministers Strauss-Kahn sollen dabei lediglich einige Leitideen beherzigt werden: Der Staat soll an seinem Einfluß auf Aktivitäten festhalten, die die Souveränität Frankreichs betreffen, also auf die Verteidigung und auf strategisch wichtige Sektoren wie die Elektronik. Zudem soll er sich in riskanten Bereichen engagieren, wo die Privatwirtschaft zögert, wie der Biotechnologie oder Umwelttechnik. Die dritte Leitlinie wird wohl ein frommer Wunsch bleiben: Jeglicher Verkauf von Staatsanteilen sollte von rein industriestrategischen Erwägungen geleitet sein, meinte der Minister. Also nicht von dem Ziel, das Staatssäckel zu füllen oder beschäftigungspolitische Maßnahmen zu finanzieren. Die Sozialisten schaffen sich wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum, doch um ihn nützen zu können, müssen sie erst mal die Wahlen gewinnen.