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In Afghanistan ist die Scharia los

Die Einführung des islamischen Rechts trifft zuerst die Frauen in der Hauptstadt/ Auf dem Lande jedoch verändert sich nicht viel/ Alkoholverbot läßt die Mehrheit der Bevölkerung kalt/ Funktionäre des alten Regimes im Genuß der Barmherzigkeit  ■ Aus Kabul Ahmad Taheri

Noch vor wenigen Wochen trug die junge Frau zur Ehre des siegreichen Heiligen Krieges ein leichtes weißes Tuch, lose über den Kopf geworfen, wie Benazir Bhutto es zu tun pflegt. Schwarze Locken, silberne Ohrringe und Lapislazulikette waren in aller ihrer Pracht sichtbar. Jetzt zeigt die Ansagerin des afghanischen Fernsehens nur noch das ovale Gesicht. Ein Tschador, wie die Afghanen die weibliche Kopfbedeckung nennen, verhüllt sorgsam Haarschopf, Ohren und Hals. Im afghanischen Bergland ist die Scharia los...

Was die Einführung des islamischen Rechts bedeutet, erfahren als erste die afghanischen Frauen am eigenen Leibe. Seit dem 7.Mai wurden sie aufgefordert, das Haus künftig nur noch mit dem Tonban, der afghanischen Pumphose, zu verlassen, dazu Tschador und Tschadori, ein sackartiges Gewand, das alles außer den Augen bedeckt. Nur die freudlosen Farben sind, anders als im iranische Nachbarland, nicht obligatorisch. Olivgrün oder rubinrot leuchtet die weibliche Vermummung unter der strahlenden Frühlingssonne Kabuls.

Auch unverschleierte Frauen sind noch in den Straßen der Hauptstadt zu sehen, ohne daß sie gleich von den Sittenwächtern behelligt werden. Die „Hudud“, die Strafen für unislamisches Betragen wie etwa Peitschenhiebe, sind anscheinend noch nicht festgelegt oder verhängt worden. Wie die unislamische Bekleidung wird im islamischen Afghanistan auch der Ausschank von Spirituosen untersagt.

Bier und Wodka adé... ..und das Haschisch?

Künftig darf sich keiner in der Öffentlichkeit bei der „Umm-al-Chabaes“, der „Mutter aller Übel“, wie der Islam den Alkohol nennt, erwischen lassen. Selbst im Luxushotel Interconti, wo die westlichen Gäste absteigen, wird mittlerweile kein Bier oder Wodka mehr ausgeschenkt. In der Islamischen Republik Pakistan, wo der Alkohol ebenfalls verboten ist, gibt es immerhin in größeren Herbergen eine Bar, in der „non-muslim guests“, Gäste, die keine Moslems sind, sich nach Einbruch der Dunkelheit mit der „Mutter aller Übel“ vergnügen dürfen.

Das dritte Opfer der Islamisierung am Hindukusch ist die Musik westlicher Machart. Noch vor einem Jahr bestaunte das Volk von Kabul allabendlich die leichtgewandeten singenden und tanzenden Schönheiten aus dem Westen im Fernsehen. Gefeiert wurde von der kommunistischen Nomenklatura — von der viele Deutsche sprechen — eine Sängerin aus Deutschland namens Nena wegen ihres Versöhnungslieds, in dem neunundneunzig bunte Luftballons besungen werden. Jetzt spielen nur noch bärtige Männer afghanische Weisen oder singen erbauliche Balladen.

Geschwiegen wird in der neuen Rechtsprechung über das „Dschars“, das Haschisch. Ein Verbot der Droge hätte die meisten der Mudschaheddin verärgert. Außerdem ist der Anbau der Hanfpflanze bekanntlich eine Hauptsäule der afghanischen Volkswirtschaft. Der Dschihad, der Heilige Krieg, wurde teilweise mit dem „schwarzen Afghanen“ finanziert.

„Ich höre, was mir gefällt

Die Einführung der Scharia läßt das gläubige Volk indessen ziemlich kalt. Sie hat weder eine Welle der Begeisterung noch eine Woge der Entrüstung ausgelöst. Die Gleichgültigkeit kommt nicht von ungefähr: Die meisten afghanischen Frauen liefen immer mit Tonban und Tschador oder Tschadori herum. Nur in Kabul „zeigte sich das kommunistische Weibervolk halbnackt“, wie ein fundamentalistischer Kommandant aus Dschalalabad sich ausdrückt. Und Alkohol war zu keiner Zeit ein verbreitetes Genußmittel am Hindukusch. Das Lieblingsgetränk der Afghanen ist Fanta. Coca-Cola hingegen halten viele für eine Art Wein, zum Leidwesen einer deutschen Firma, die zur Zeit versucht, eine bereits gebaute Colafabrik im Süden Kabuls in Betrieb zu nehmen.

Das einzige an der Scharia, was die Muschaheddin wie die Bevölkerung vergrämt, ist die Einschränkung des musikalischen Vergnügens. „Was gesungen werden darf oder nicht“, sagt Anwar, der berühmte Kommandant von Sarubi den ausländischen Journalisten gegenüber, „geht mich nichts an. Ich höre, was mir gefällt.“

Die indischen oder persischen Musikkassetten begleiteten stets die heiligen Krieger in den afghanischen Bergen. Die persische Schlagersängerin mit dem auch für iranische Ohren ungewöhnlichen Namen Gugusch, die unter dem Schahregime mit ihrem erotischen Gestus und ihren anzüglichen Liedern zwischen Persien, Golf und Aralsee die kaiserliche Libertinage symbolisierte, ist in Afghanistan noch bis heute selbst für die Kämpfer des Fundamentalisten Hekmatyar der absolute Star.

Von allen Bevölkerungsgruppen kommt die Einführung der Scharia am meisten den Kommunisten zugute. „Die islamische Regierung“, verkündete unlängst Ayatollah Mohseni, Chef der schiitischen Mudschaheddingruppe „Islamische Bewegung“ und Sprecher der neuen Macht, „vertritt Haqq Allah und ist als solche befugt, im Namen des barmherzigen Erbarmers den kommunistischen Feinden zu vergeben.“ Wem aber von den Kommunisten Unrecht geschehen sei, so Mohseni, der könne im Rahmen von Haqq an- Nas vor dem Kadi Klage erheben. „Haqq Allah“ bedeutet Gottesrecht und damit alle Rechte, die den Staat betreffen. „Haqq an-Nas“, wörtlich „die Rechte der Menschen“, meint die privaten Angelegenheiten. Sie beide sind die Hauptbegriffe der Scharia, der islamischen Rechtsprechung.

Barmherzigkeit und Pragmatismus

Tatsächlich ist die afghanische Blutrache ausgeblieben. Hingerichtet wurde keiner von den kommunistische Funktionären. „Die Vergebung ist Gebot des Islam“, sagt Kommandant Anwar, der dem Sieger von Kabul, Ahmad Schah Massud, nahesteht. Doch weniger das islamische Gebot als der ausgeprägte afghanische Pragmatismus verschont das Leben der einstigen Feinde. Ohne Mitarbeit der von Nadschibullah vererbten Administration käme in Kabul alles zum Erliegen. Denn die Mudschaheddin haben nichts anderes gelernt, als mit der Kalaschnikow herumzuschießen.

Der aus 51 Männern bestehende muslimische Übergangsrat hat beschlossen, daß die alten Funktionäre, ausgenommen die Minister, auf ihren Posten bleiben sollen. „Erst glaubte ich nicht an diesen Beschluß“, sagt ein hoher Beamter des Außenministeriums, „doch seit ein paar Tagen gehe ich täglich in mein Büro, und die wachhabenden Mudschaheddin salutieren respektvoll.“

Trotz der Scharia wird Afghanistan kein Ableger des schiitischen Gottesstaates Chomeinis werden. Dafür liegen Welten zwischen den kulturellen und religiösen Traditionen der beiden Länder. Der sunnitische Islam, zu dem die überwiegende Mehrheit der Afghanen gehört, kennt keine klerikale Autorität, deren Befolgung der Bevölkerung obliegt. Allah hat am Hindukusch keine Stellvertreter, die bereit wären, in Seinem Erhabenen Namen zu schalten und zu walten, wie etwa die Ayatollahs in Teheran. Hinzu kommt, daß die hanafitische Rechtsschule, die die afghanische Religiosität prägt, die toleranteste unter den vier sunnitischen Ausrichtungen ist. Ferner hat das Sufitum, die islamische Mystik, die in Afghanistan weit verbreitet ist, dem Geist der Duldsamkeit den Boden bereitet.

Die Einführung des islamischen Rechts bedeutet für Afghanistan auch kein Rückfall in dunkle, vergangene Zeiten. Die afghanische Stammesgesellschaft, sieht man von der Enklave Kabul ab, befindet sich ohnehin im „Mittelalter“.

„Scharia: geradezu emanzipatorisch“

Das archaische Brauchtum, das das Leben der Afghanen, namentlich der Paschtunen bestimmt, fußt nicht auf dem Islam, sondern auf dem „Paschtuwali, dem Stammesgesetz des Paschtunen. Das „Paschtuwali“ mit seinen uralten Sitten wie dem Brautgeld, der Blutrache und anderen verhängnisvollen Ehrbegriffen, wurde stets von islamischen Theologen als heidnisch bekämpft.

Und was die Rechte der Frauen angeht, ist das islamische Gesetz gegenüber dem Paschtuwali geradezu emanzipatorisch. Die erste Mädchenschule in den Flüchtlingslagern in Peschawar wurde von der „Islamischen Partei“ des Fundamentalisten Hekmatyar errichtet. Die „Islamische Partei“ gab auch die Zeitschrift 'Zanan‘, 'die Frauen‘, heraus, während das Paschtuwali den Männern verbietet, die Namen ihrer Frauen selbst beim Flüchtlingsamt anzugeben. Im paschtunischen Stammesrecht geht „Namus“, die Mannesehre — die besonders über den weiblichen Teil der Familie vermittelt ist —, über alles. Die Frauen jedoch existieren als Rechtspersonen nicht. „Eher werden die Kommunisten von Kabul die Scharia befolgen“, sagt der afghanische Soziologe Muhammad Niasi, „als die paschtunischen Khans in Paktia oder Ghandahar!“

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