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SHORT STORIES FROM AMERICA VONMARCIAPALLY

Murphy Brown hat ein Baby bekommen. Laut einem 'New York Times‘-Artikel, den ich nach einem mehrwöchigen Europa-Aufenthalt bei meiner Rückkehr in die USA als erstes las, ist es ein prächtiger Junge. Ich war entzückt über die Meldung, die soviel erfreulicher war als die wirtschaftliche und politische Szenerie. Obwohl ich mich nicht wunderte, in der 'Times‘ davon zu lesen, war ich irritiert, daß die Ankündigung nicht hinten zwischen Geburts- und Todesanzeigen stand, sondern auf der Titelseite. Insbesondere, weil Murphy Brown keine reale Person ist.

Murphy Brown ist eine Figur aus einer Situationskomödie — gespielt von Candice Bergen — die in ihren Vierzigern unvorstellbarerweise ein Kind bekommt, und das ohne Papa. Ihre Schwangerschaft war ein TV-Muß für viele Amerikaner, und ihrer großen Bedeutung gemäß identifizierte man die Geburt als Ursache für die Aufstände in Los Angeles im letzten Monat. Hier endlich lag die Erklärung für die mysteriöse Gewalt im Anschluß an das Urteil einer weißen Jury, den Freispruch für die fünf weißen Polizisten, die Rodney King — dem schwarzen Schänder des Tempolimits — die Seele aus dem Leib geprügelt hatten. Hier war eine Vision, die sogar Präsident Bushs Weisheit, daß „die Wohlfahrt sie dazu gebracht hatte“, übertraf. Daher die Plazierung auf der Titelseite. Jetzt wissen Sie Bescheid.

Es war Vizepräsident Quayle — der Mann, der glaubte, die Lateinamerikaner sprächen Latein —, der Murphy Brown mit den Aufständen in Verbindung brachte. Spanisch wird in Lateinamerika (außer Brasilien) gesprochen und in einem Großteil der Innenstadt von Los Angeles; also kann man der Logik seiner Behauptung folgen, die Ursache für die Unruhen liege darin, daß die Leute „arm an Familienmoral (family values)“ seien. Spanisch qua Latein Sprechende haben Quayles Argumentation zufolge keine Familienmoral. Quayle ist auch der, der den Slogan des United Negro College Fund, „Es ist furchtbar, seinen Verstand nicht zu nutzen“, zitierte als: „Es ist furchtbar, den Verstand zu verlieren oder keinen zu haben.“

Unverheiratete Mütter wie Murphy Brown tragen zu den Problemen bei, sagte Quayle, und die Ehe würde die Armen mit der notwendigen moralischen Substanz ausstatten, die sie zu Angehörigen der Mittelschicht mache. Ich halte das für erstklassiges Denken — mit einer Ausnahme: Zufällig weiß ich, daß Ms. Bergen englisch und französisch spricht.

Mr. Quayle muß die Ehen in Amerikas Mittel- und Oberschicht meinen, von denen 50Prozent innerhalb von fünf Jahren in die Brüche gehen. Er muß die Familien meinen, in denen landesweit am meisten Gewalt gegen Frauen und Kinder vorkommt. „Es hilft nichts, wenn Murphy Brown zur Hauptsendezeit den Vater lächerlich macht“, fuhr er fort. Er muß jene Väter (aller Klassen) meinen, die der 'New York Times‘ zufolge 38 Sekunden pro Tag mit Säuglingen verbringen, 26 Minuten mit Kindern unter fünf Jahren und 16 Minuten mit Kindern zwischen sechs und 17. Ich wette, wir wüßten einiges mehr über die Unruhen, wenn wir herausgefunden hätten, welche Sprache Rodney Kings Vater sprach.

Das sollte man in Erfahrung bringen. Nicht etwa — und damit verschwendeten manche ihre Zeit —, welche Sprache des Rassismus und Machismo die Väter der Polizisten sprachen. Und auch nicht — eine noch größere Zeitverschwendung! —, was mit der Armut in Amerika während der moralisch substanzlosen, von Sozialprogrammen gebeutelten sechziger Jahre passierte. Zwischen 1964 und 1973 sank der Anteil der Armen in der Bevölkerung von 19 auf 11 Prozent: Unter älteren Menschen ging er noch weiter zurück. Die Zahl der Armen blieb sogar während der Rezession nach der Anhebung der Ölpreise durch die OPEC niedrig. Trotz eines wirtschaftlichen Booms stieg hingegen der Prozentsatz in den achtziger Jahren, als sich die finanzielle Unterstützung des Bundes für die Städte um fast zwei Drittel verringerte. Der für die Städte vorgesehene Anteil am nationalen Haushalt fiel von 18 Prozent im Jahr 1980 auf sechs Prozent 1990 und beläuft sich nun auf weniger als 15 Milliarden für das gesamte Land.

In Los Angeles wurden vier schwarze Jugendliche mit einer Videokamera gefilmt, als sie während der Aufstände einen weißen Mann verprügelten. Sie hatten ein Leben im Gefängnis zu erwarten; ihre Kaution betrug zwischen 50.000 und 195.000 Dollar. Für die Polizisten, die wegen der Mißhandlung von Rodney King angeklagt waren, legte man Summen zwischen 5.000 und 30.000 Dollar fest. Eine der Mütter der Jungen, Georgina Williams, brachte das Geld für ihren Sohn auf, indem sie ihr eigenes Haus, die Häuser mehrerer Verwandter und andere Vermögenswerte als zusätzliche Sicherheiten anbot. Richter Chidsey verlangte dann eine Untersuchung, die sicherstellen sollte, daß das gesamte Geld für die Kaution rechtmäßig erworben sei. Mrs. Williams antwortete: „Ich arbeite jeden Tag. Mein Haus gehört mir seit 1976. Ich schätze es nicht, wie ein Dieb behandelt zu werden. Sie können ihnen sagen, meine Großmutter bewahrt es in einer Keksbüchse auf.“

Um die Murphy-Brown-Theorie der sozialen Unruhe abzurunden, schmückte die 'New York Times‘ ihre Titelseite einen Tag nach dem Brown-mit-Baby-Cover mit der Meldung, daß Johnny Carson — der Typ, der den kalifornischen Couch-Talkshow-Stil erfand und dazu beitrug, daß Kalifornien den Scheidungsrekord hält — sich vom Fernsehen zurückzieht. In seiner letzten Sendung kündigte er an, daß er nicht wie geplant abtreten, sondern sich der Murphy- Brown-Truppe anschließen werde, um dem armen Waisenkind einen Vater zu geben. Er ist der Richtige, dem Kind Moral zu vermitteln.

Abschließende Bemerkung: Mitten in die sensationellen Neuigkeiten über Murphy Brown hinein verkündete Bush letzte Woche, daß die US-amerikanische Küstenwache von den haitianischen Flüchtlingen, die auf die USA zusegeln, nur die bergen werde, deren Boote kurz vorm Sinken sind. Das sollte die Emigranten entmutigen. Vier Tage später steigerte Bush seine Abschreckungsmanöver, indem er sagte, die Küstenwache nehme keine Flüchtlinge auf, sondern eskortiere statt dessen die boat people auf dem Rückweg nach Haiti. Die 'New York Times‘ schrieb: „Der Präsident gab den Befehl von seinem Feriendomizil aus, nachdem er zu dem Schluß gekommen war, daß für weitere haitianische Flüchtlinge keine Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden seien.“

Aus dem Amerikanischen von Annette Schlichter

WENN MAN NUR HERAUSFINDEN KÖNNTE, WELCHE SPRACHE DER VATER VON RODNEY KING GESPROCHEN HAT

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