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Die „zweite Französische Revolution“

In Berlin tagt in dieser Woche der Deutsche Ärztekongreß/ Chirurgen propagieren „schonende Operationstechniken“/ Aber: „Die Komplikationsrate ist dabei mindestens genauso hoch wie bei den herkömmlichen, radikalen Techniken.“  ■ Von Hanna Rheinz

Mut und Unerschrockenheit gehörten bereits in früheren Zeiten zu den herausragendsten Persönlichkeitseigenschaften von Chirurgen. Breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt, mit feurigen, blitzenden Augen, den Schurz mit Blut besudelt — so wurden sie auf historischen Gemälden abgebildet. Am 30.Mai 1602, der Donnerstag nach Pfingsten, wurde morgens um 7 Uhr in Brandenburg die erste erfolgreiche Magenoperation der Welt durchgeführt. Der Operateur hieß Florian Matthis, erster Chirurg am Königlichen Hof in Brandenburg. Sein Patient war ein Bauernknecht, der auf Jahrmärkten Kunststücke aufführte: Doch beim Messertrick rutschte es ihm die Kehle hinunter, um „hinein in den Magen zu rumpeln“. Jessenius, der Kaiserliche Leibarzt in Böhmen und Prag, riet, der Natur ihren Lauf zu lassen, abzuwarten, bis das verschluckte Messer sich durch die entzündliche Geschwulst von selbst seinen Weg ins Freie suchte und durch die aufbrechende Vereiterung abgestoßen werden würde. Doch als die Schmerzen des Patienten unerträglich wurden, wagte Matthis, den Magen zu öffnen. Seine Operation war erfolgreich. Die Beschreibung dieser ersten Gastrotomie wurde zu einem Bestseller.

An die Helden früherer Jahrhunderte, die zäh gegen Wundbrand und Fieber ankämpften, erinnern die in sterilem Grün gekleideten Chirurgen freilich nicht mehr. Dennoch wird die traditionelle Experimentierfreude der Chirurgen auch heute noch gewahrt. Dies unterstreicht auch der Deutsche Ärztekongreß, der gegenwärtig in Berlin stattfindet. Schonende Operationstechniken bestimmen den Trend in der Chirurgie.

Chirurgen warnen vor überhöhten Erwartungen

Endoskope werden von Internisten und Gynäkologen seit Jahrzehnten für Diagnose und operative Eingriffe benutzt, etwa um ein Speiseröhrenkarzinom oder Ulcusgeschwür zu lokalisieren oder Zyste und Myom zu entfernen. Neu dagegen ist die endoskopische Chirurgie. Sie gilt als „zweite Französische Revolution“.

Experimentierfreude bewegte den französischen Arzt Moret, als er 1987 zum ersten Mal Endoskope durch die Bauchdecke führte, um Blinddarm und Gallensteine zu entfernen. Die deutschen Chirurgen, durch Endoskopie-Arbeitsgemeinschaften bestens vorbereitet, übernahmen die neue Technik. Seit nunmehr drei Jahren gibt es die „minimal invasive Chirurgie“, die „schonenden Operationstechniken“. Eine Bezeichnung, die allerdings irreführend ist und falsche Erwartungen erweckt. Denn diese Techniken sind zwar unblutiger, für den Organismus jedoch ebenfalls belastend. Das Öffnen der Bauchdecke oder des Brustkorbs bleibt aus. Die Chirurgen führen Endoskope oder Laparoskope über drei kleine Schnitte in die Bauchhöhle und operieren, während sie ihre Bewegungen mit Kameras und Video verfolgen. Wenn die Endoskope herausgezogen werden, schließt sich das Gewebe ringförmig. Ist damit die Epoche „radikaler Lösungen“ beendet, jener Operationen, bei denen nicht eher halt gemacht wurde, als bis alles „ausgeräumt war“?

Die Chirurgen warnen vor überhöhten Erwartungen. Viele der neuen Techniken befinden sich noch im experimentellen Stadium: „Man kann damit nicht alles machen.“ Zudem sei die Komplikationsrate bei diesen neuen Techniken, warnt Hans Troidl, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik in Köln-Merheim, „mindestens genauso hoch wie bei den herkömmlichen, radikalen Techniken“. Am Beispiel der Laserchirurgie werde deutlich, daß neue Techniken in eine Sackgasse führen können. Eine übereilte Vermarktung sei daher verfehlt.

Krankenhausaufenthalte verkürzen sich drastisch

Trotz aller Vorbehalte überwiegen die Vorteile: Krankenhausaufenthalte verkürzen sich drastisch, die Schmerzbelastung sinkt, eine große Operationswunde wird vermieden, die postoperative Abgeschiedenheit fehlt. Neben vorübergehenden Blutergüssen bleiben keine sichtbaren Narben zurück. Unter den Patienten steigt die Bereitschaft zu prophylaktischen Operationen. Daß Operieren hier oftmals Therapieschäden verhindern kann, wird an den entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbuis Crohn und Colitis Ulcerosa deutlich. Obwohl das Krebsrisiko gering ist, hat die Langzeitbehandlung mit Cortison erhebliche Nebenwirkungen, wie Knochenerweichung (Osteoporose). Eine vorbeugende Darmoperation „bevor eine psychosoziale Notsitutaion entsteht“, kann die Genuß- und Arbeitsfähigkeit erhalten: Während Chirurgen früher radikal operierten und einen künstlichen Darmausgang legten, werden heute Mastdarm und Dickdarm zwar entfernt, aber ein Dünndarmbeutel hergestellt, der eine natürliche Stuhlentleerung ermöglicht. Da fünfzig Prozent aller Patienten mit „stummen Gallensteinen“ ein Gallenblasenproblem entwickeln, wird in Zukunft hier vermutlich ebenfalls prophylaktisch operiert.

Herkömmliche Ulcus- und Gallenblasenoperationen sind inzwischen schon um vierzig Prozent zugunsten der schonenden Verfahren und der medikamentösen Ulcus- Therapie zurückgegangen. Blinddarme werden bereits routinemäßig mit Endeskopen entfernt. Noch im Erprobungsstadium sind endoskopische Brustoperationen bei Lungenverletzungen. Auch Meniscus, Bandscheiben- und Leistenbruchoperationen werden endoskopisch durchgeführt.

Für viele der herkömmlichen radikal-invasiven Verfahren, wie sie bei Krebstumoren eingesetzt werden, gibt es aber noch keine Alternative. Fünfundsiebzig bis achtzig Prozent der Tumore sind nur radikal zu entfernen. Neue Erkenntnisse über Lymphbahnen, deren Klappensysteme sich nur in einer Richtung öffnen und den Weitertransport der Krebszellen damit begrenzen, ermöglichen organschonenderes Vorgehen.

Tageschirurgie als Modellversuch in Bayern

Endoskopische Operationen sind zeit- und personalintensiver als konventionelle Verfahren. Ein angehender Chirurg muß zunächst vierzig „normale“ Gallenblasenoperationen absolvieren, bevor er zur Weiterbildung „Endoskopische Chirurgie“ zugelassen wird. Da in Zukunft möglicherweise nur noch Risikopatienten konventionell operiert werden, könnte längerfristig eine Kluft aufbrechen zwischen sinkenden Operationsfrequenzen und damit Mangel, Erfahrungen zu sammeln, und der Kompliziertheit der verbleibenden Fälle. Chirurgen klagen darüber, daß viele Patienten endoskopische Verfahren fordern, auch wenn sie nicht für jeden Patienten geeignet sind. Außerdem ist es ethisch nicht vertretbar, Patienten die schonenderen Verfahren vorzuenthalten.

Dabei könnte die Tageschirurgie eine Alternative für den Mangel an Pflegepersonal sein. Die aufwendige Diagnostik vor der Operation muß allerdings außerhalb des Krankenhauses in der Praxis eines niedergelassenen Facharztes durchgeführt werden. Dies gilt ebenso für die Nachsorge. Die neue Logistik, von der sich die Krankenversicherungsträger erhebliche Kostenersparnisse versprechen, wird derzeit als Modellversuch mit der Allgemeinen Ortskrankenkasse in Bayern erprobt. Die versicherungsrechtlichen Folgen der Tageschirurgie sind noch nicht abzusehen. Denn im deutschen Gesundheitssystem werden Patienten und Krankenhäuser für die lange Verweildauer im Krankenhaus belohnt. Durch ambulante Operationen muß der Patient aufs Tagegeld verzichten; doch, vielleicht ein Trost, sein Chirurg erhält ebenfalls keinen Zuschlag, denn er kann den organisatorischen Mehrwaufwand der ambulanten Chirurgie nicht angemessen abrechnen.

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