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Wahnbildende Maßnahmen

Katharina Rutschkys Buch über sexuellen Kindesmißbrauch  ■ Von Christel Dormagen

Eigentlich könnte es ein schöner Tag sein. Wie geputzt wirkt die Stadt in der Vormittagssonne. Der Regen des Vortages hat die Luft entstaubt und die Fassaden der Häuser abgewaschen. Die aufstrebenden Architekturlinien bilden mit ihrem waagerechten Abschluß gegen das Blau des Himmels ein so harmonisches Beisammensein, daß man die Welt für diesmal gut sein lassen könnte. Wenn nicht, ja, wenn sich nicht hinter diesen Fassaden unvorstellbares Grauen ereignete. Jetzt, in diesem Augenblick, und in drei Minuten schon wieder — grauenhaftes Grauen.

Ein Vater, mit seiner kleinen Tochter allein zu Hause, nähert sich dem Kind, bedrängt es, aus Liebe. Das Mädchen bettelt und fleht: „Bitte nicht!“ Doch der Vater tut es. Er vergewaltigt seine eigene Tochter. Und das geschieht alle drei Minuten— in Deutschland. Manchmal wird die Mutter überraschend zur Zeugin dieses Verbrechens. Dann schickt sie vielleicht besorgt die Tochter zu ihrer Psychoanalytikerin, auf deren Couch sie selbst schon acht Jahre liegt. Und das Kind kommt nach der ersten Besprechung weinend nach Hause: „Ich will nie wieder zu dieser Frau. Sie sagt, es sei nicht schlimm, daß ich solche Dinge phantasiere..., aber ich müsse mit ihr herausfinden, warum ich Papa Schwierigkeiten machen wolle. Ich habe Angst vor ihr.“

Da die Fassaden jenes Grauen im Dreiminutentakt leider verbergen, wir seiner also nicht wirklich ansichtig werden, müssen unsere Augen durch Mauern hindurch sehend gemacht werden. Alice Miller, die Spezialistin in Sachen Kindheit-bringt- Unglück, ist solch eine Augentherapeutin. Jenes zitierte, zwischen Vater, Mutter und Analytikerin ausweglos eingesperrte Kind tritt in einem ihrer Bücher als Zeugin der Anklage auf. Aber auch sonst verschaffen sich die Opfer endlich Gehör. Das Tabu gelte nicht länger, die Mauern des Schweigens seien durchbrochen, sagen sie. Mißbrauchte Überlebende bevölkern Fernsehtalkshows, Radioreportagen, Zeitungen, Zeitschriften, Theaterstücke, Aufklärungsliteratur und Selbsthilfegruppen. 300.000 mißbrauchte Kinder jährlich. 300.000 zerbrochene Leben. Denn der Ogger läßt die Sau raus, mit offenbar steigender Triebtendenz. Da kann nur Aufklärung Abhilfe schaffen. Jeder vierte Daddy vergewaltigt seine Tochter — oder etwa doch schon jeder zweite?

Erschütterung macht mobil. Die Opfer und ihre medialen Fürsprecher ergreifen mutig und in bewegender Eintracht das Wort. Das Ausmaß des Furchtbaren kennt weder rechts noch links. 'Bild‘ und Frauengruppen kämpfen Seite an Seite. Und nur einer gefällt das nicht. Sie macht einfach nicht mit. Statt betroffen ist sie pingelig und überprüft kleinkariert Statistiken, wo es doch um Leiden geht. In ihrem soeben erschienenen Buch Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten und Fiktionen rechnet Katharina Rutschky allerdings nicht nur Zahlen nach, sondern auch mit dem mißbrauchten Mißbrauch ab. Rutschkys griffige und gezielt provokante These lautet: „Kindesmißhandlung plus Feminismus gleich sexueller Kindesmißbrauch.“ Müssen sich die Unglücklichen zu ihrem Leiden auch noch die nachträgliche Beleidigung gefallen lassen?

Doch darum geht es der Autorin nicht. Sie bezweifelt nicht das Vorkommen sexueller Gewalt an Kindern — das muß sie allerdings, wie um Ablaß bittend, ausdrücklich beteuern, um angesichts des heiklen Themas überhaupt weiterargumentieren zu dürfen. Dabei beansprucht auch sie Aufklärung. Zu allererst einmal aber über eine Interessenlage. Statt also beispielsweise über Alice Millers Mutter und Tochter mitzuweinen, bescheinigt sie der Mutter, daß sie strohdumm ist, wenn sie das Kind stehenden Fußes zur Analytikerin schickt und nicht erst einmal mit ihrem Mann redet.

Als zu Beginn der achtziger Jahre in der Bundesrepublik das Thema Kindesmißbrauch, um eine Dekade zeitversetzt, aus den USA importiert wurde, ruhte es auf einem anderen erregten Sprechen auf. Im öffentlichen und privaten Raum ging ein männlicher Sexus um, der aus jeder Frau eine potentiell vergewaltigte machte: Alle Frauen sind Opfer. Die Entdeckung der Kinder — und das hieß erst einmal nur der Mädchen— als neuer Opfergruppe, so Rutschky, folgt einerseits der Progressionslogik — Kinder sind noch wehrloser als Frauen — und schließt andererseits die Schleife rekursiver Selbstreflexion. Männliche Gewalt äußert sich am grausamsten sexuell, Mädchen sind kleine Frauen, und Väter sind vor allem Männer. Also ist jede unglückliche Befindlichkeit wahrscheinlich die Folge sexueller Gewalt. Wenn Frauen sich daran erinnern, ist es schrecklich. Und wenn sie sich nicht erinnern, haben sie es verdrängt, weil es so schrecklich war. Beide Stränge — das Horrorlustszenario und das Coming-Out- Modell — eignen sich bestens, die Wirklichkeitsproduktion anlaufen zu lassen, die therapeutische wie die mediale.

Damit diese aber Gewicht bekommt, muß das Außerordentliche gewissermaßen zum Ordentlichen erklärt werden. Kindesmißbrauch wird mit Hochrechnungskunst zum angeblich tabuisierten Massenphänomen montiert. Als magische Zahl haben sich die bereits erwähnten 300.000 durchgesetzt. Dabei hat zum einen die Dunkelziffer von 1:20 geholfen, d.h. für jeden zur Anzeige gebrachten Mißbrauch werden 20 unangezeigte angesetzt, und zum anderen ist stillschweigend die Opfergruppe Kind auf Jugendliche bis 18 Jahre erweitert worden. Darüber hinaus werden verschiedene Straftatbestände rechnerisch vereinheitlicht, da das Anzeigenaufkommen wegen Verstößen gegen §173 StGB (Inzest), §174 (Mißbrauch von Schutzbefohlenen), §179 (Mißbrauch Widerstandsunfähiger) offenbar so gering ist, daß es polizeistatistisch gar nicht erfaßt wird. Fazit dieser Rechenkünste ist, daß jede Anzeige — von nichtsexueller Kindesmißhandlung bis zum Beischlaf einer 17jährigen mit ihrem 35jährigen Stiefvater — als sexueller Kindesmißbrauch gezählt wird. Und der Schrecken über die Zahl verwandelt flugs die hochgerechnete Anzeige in eine Tatsache, in die des Inzests mit Kleinstkindern eben. Das Horrorszenario steht.

Und wenn die 'Bild‘-Zeitung unlängst die Opfermenge mit 1,2 Millionen bezifferte, so verleiht das den 300.000 rückwirkend den Anstrich nüchterner Seriösität. Wer wollte da noch auf den Deutschen Kinderschutzbund hören, der „die Zahl von Kindern, die im Bundesgebiet im Jahre 1991 voraussichtlich von Eltern, Bekannten, Freunden oder Fremden sexuell bedrängt oder genötigt wurden, mit geschätzten 80.000 angibt. Die Angabe einer so niedrigen Zahl grenzt fast an Selbstschädigung, wenn man bedenkt, daß die Größe einer Organisation sich an der Größe ihrer Aufgabe mißt“?

Und die Größe der Aufgabe wächst in dem Maße, wie sich ihr Gegenstand als gesellschaftliche Generalnot ausweisen läßt. Denn „der zivilisatorische Impetus der Helfer kommt nicht zum Zuge, sondern wird auf Müllwerkerstatus herabgestuft, wenn es nur um Aufräum- und Korrekturarbeiten in gesellschaftlichen Randgruppen geht“. Der Helferstand selbst entstammt bekanntlich der bürgerlichen Mittelklasse— ebenso wie der Mythos von der beschützten Kindheit übrigens. Mit der unterstellten Generalisierung des Problems wird nun aber jeder Mann zum Träger des normalen Bösen, einfach dadurch, daß er ein sexuelles Wesen ist.

Wie zwei Jahrzehnte früher der Sex zum klassenübergreifenden Identitätsstifter für befreite Menschen wurde, so wird nun sein Mißglücken, d.h. der Mißbrauch, folgerichtig zum klassenübergreifenden Identitätsvernichter hypostasiert. Vom einen wie vom anderen leben— als Sexgewinnler quasi — die Therapeuten und all die übrigen Helfer und Retter.

Und — so vermute ich einmal— auch die Feministinnen. Die Frauen hatten in der Nachfolge von 68 die sexuelle Revolution, die zuerst von Männern verkündet worden war, als Befreiungsmodell auch für sich reklamiert. Sexuelle Selbstbestimmung als Muster einer unmfassenden individuellen Handlungsautonomie. Und plötzlich entpuppte sich das Recht auf Entscheidungsfreiheit zunehmend auch als unangenehme Pflicht. Die errungene Freiheit war nicht halb so schön wie geplant. So daß sich klammheimlich wieder manch alte Phanasien von Weiblichkeit als Flucht ins entlastende Neinsagen und vielleicht doch Jameinen einschlichen. Jene alte Sterntalerphantasie von den Dingen und Menschen, die einem ohne eigenes Zutun in den Schoß fallen. Könnte es nicht sein, daß das feministische Interesse an der Propagierung des sexuellen Mißbrauchthemas sich auch aus dem, wie immer bewußtlosen, Wunsch herleitet, der neu erworbene Opferstatus möge in die alte, so leichtsinnig hergegebene weibliche Unschuld der Nichtverantwortlichkeit zurückführen? Und das diesmal über eine Sex-Schiene, die keinen kalt läßt; der schlichte alte Patriarchats-Vorwurf zieht nämlich nicht mehr so recht.

Was aber bleibt zu tun? Im Sinne des gängigen Mißbrauch-Diskurses wäre die beste Heilung des Verbrechens seine totale Prophylaxe: Um den Mißbrauch zu verhindern, müßte der Gebrauch abgeschafft oder zumindest lückenlos überwacht werden. Die besten Gefühle wären keine Gefühle, und neben jedem Kind stünde ein aufmerksamer Therapeut. Ein Horrorszenario! Diesen paradoxen Sachverhalt macht das Buch am Beispiel der neuesten wahnbildenden Maßnahme, dem sexuellen Kindesmißbrauch, deutlich. „Ob die zwanghafte Isolierung der Sexualität nach den Gesetzen der Bürokratie mit Hilfe der Frauen fortgesetzt und womöglich noch verschärft wird, das ist die Frage, mit der wir uns im Augenblick beschäftigen müssen“, so die Autorin. Es soll also schon noch geredet werden. Aber auf ein Erkennen und nicht auf ein Bekennen hin.

Katharina Rutschky, Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten und Fiktionen. KleinVerlag, Hamburg 1992.

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