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Polens Stasi-Debatte aus den Fugen

Solidarność-Kongreß übt Kritik an Walesa und feiert Ex- Ministerpräsident Olszewski/ Stand Walesa 20 Jahre lang auf der Gehaltsliste der Geheimpolizei?/ Verwirrung um gegenseitige Putschvorwürfe  ■ Aus Warschau Klaus Bachmann

„Wenn ich die Regierung nicht ausgewechselt hätte, wäre euer Kongreß ins Wasser gefallen, und ich säße heute vielleicht im Internierungslager“, erklärte Präsident Lech Walesa am Samstag sichtlich genervt den Delegierten des Solidarność- Kongresses in Danzig. Die hatten ihn nämlich ausgebuht und den von Walesa entlassenen Regierungschef Jan Olszewski mit stehenden Ovationen begrüßt. Die Delegierten warfen Walesa vor, die Ideale von Solidarność verraten und Kommunisten zur Macht verholfen zu haben. Sogar mit dem Wort „Umsturz“ belegten die Anhänger der abgetretenen Regierung die Machtübernahme durch den neuen Premier Pawlak, der aus der ehemals mit den Kommunisten verbündeten Bauernpartei stammt.

Das ließ die Walesa-Freunde nicht ruhen. Bronislaw Geremek konterte, die Regierung Olszewski habe ihrer Abberufung am 4. Juni mit einem Putschversuch zuvorkommen wollen. Bisher einziger Anhaltspunkt für Umsturzpläne der Regierung Olszewski ist ein nicht ausgeführter Befehl des inzwischen abgesetzten Geheimdienstchefs Piotr Naimski, der den Kommandeur der Truppen des Innenministeriums am Morgen des 4. Juni beauftragte, erhöhte Alarmbereitschaft anzuordnen. Der Befehl wurde vom neuen Geheimdienstchef Andrzej Milczanowski veröffentlicht, Naimski dagegen hat dementiert. Wie Olszewskis Verteidigungsminister Szeremetiew erklärte, habe der Befehl nur vorbeugenden Charakter gehabt.

Bereits am Morgen jenes denkwürdigen 4. Juni hatte Innenminister Macierewicz begonnen, die Listen mit den angeblichen Geheimpolizei- Spitzeln in Parlament und Regierung den einzelnen Parlamentsfraktionen zuzustellen. Während die Abgeordneten Namenslisten, jeweils mit einem Hinweis über Decknamen und Zeit der Agententätigkeit, erhielten, ging im Belvedere noch eine zweite Liste ein, die angebliche Agenten „mit besonderen Leistungen“ enthielt, allerdings ohne nähere Erläuterungen. An oberster Stelle: Der Präsident persönlich. Der betrachtete das als Erpressungsversuch: „Die wollten, daß ich nach ihrer Pfeife tanze, nur damit sie meine Akten nicht veröffentlichen.“ So habe er sich entschlossen, die Absetzung der Regierung zu beschleunigen.

Daß Lech Walesa im Zusammenhang mit den Streiks von 1970 an der Ostseeküste insgesamt vier verschiedene Protokolle und Verpflichtungserklärungen bei der Polizei unterschrieben hat, ist indes kein Geheimnis: Walesa selbst hat das in seinen bereits vor Jahren publizierten Memoiren beschrieben. Die Listen enthalten alllerdings viele Fehler. Und es ist ihnen auch nicht zu entnehmen, ob die betreffenden Personen nur Verpflichtungserklärungen unterschrieben, Berichte geliefert haben oder womöglich ohne ihr Wissen in die Akten gelangt sind. Inzwischen ist auch klar, daß die geheime Arbeitsgruppe des Innenministers, die die Listen zusammenstellte, dazu nicht die geringsten Qualifikationen besaß; ihre Mitglieder waren Studenten und Berufsschüler.

Von dem Moment an, als Walesa die Listen erhielt, überstürzten sich die Ereignisse. Kurz darauf ging bei Sejmmarschall Chrzanowski der Antrag des Präsidenten auf sofortige Absetzung der Regierung ein. Statt am darauffolgenden Freitag wurde so noch am Donnerstag abend über den Mißtrauensantrag der Opposition abgestimmt. Er wurde mit überwältigender Mehrheit kurz vor ein Uhr nachts angenommen. Schon am nächsten Morgen nominierte Walesa Waldemar Pawlak zum Premier, der ernannte sofort zwei neue Interimsminister für das Verteidigungs- und Innenministerium sowie einen neuen Staatsschutzchef. Dieser ließ sofort alle Räume der Geheimdienstzentrale versiegeln und von Milizeinheiten des Innenministeriums bewachen.

Der Coup zeitigte Folgen. Ex- Premier Olszewski rief inzwischen zur Bildung einer „breiten Front gegen die Rekommunisierung Polens“ auf. Unterdessen laufen Sondierungsgespräche von Zentrum und Christnationalen zur Bildung einer Koalition mit Demokratischer Union und Liberalen zum Sturze der Regierung Pawlak.

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