Keine dumme Auguste

■ Hörspiel von Lothar Trolle, DS-Kultur, 15.35 Uhr

Eine alte Dame, Schauspielerin im Ruhestand, probiert Sentenzen zum Piano. Ziel ihrer Übung ist ein Comeback — im Zirkus. Dann greift die Tonregie als „Zeitraffer“ ein: Temperamentvoller Zirkusmarsch, und wir sitzen in der ersten Reihe. Als alte Clownin steht Lizzy vor dem Spiegel, der sehr bald den Reflexionsradius ihrer Seelenlandschaft umfassen wird. Mit gefährlich rollendem „Rrr“ mimt sie den Auftritt ihres „Härrnn Direktohrr“. Ganz Clownin, geht Lizzy im Rollentausch auf: Ihr „Hütchenspiel“ gehört zum klassischen Repertoire. Doch während sie vor ihrem Herrn Direktor im Diktions-Wechsel zwischen „dramatisch überdreht“, „ergreifend schlicht“ und „stereotypisch Clown“ die teils monströs-absurden Nummern vorstellt, erschleicht uns auf den Bänken eine leise Ahnung: Diese „dumme Auguste“ vor dem Spiegel ringt eigentlich nach Möglichkeiten, ihre Erinnerungen auszudrücken: „Tote und Spiegelbilder im Stummfilm“. Doch in geregelter Sprache ist die Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz nicht zu zähmen.

So kämpft sie, spielt, singt und schreit in Auftritten vor der „Bestie Publikum“ erlebte Schreckensbilder in die Manege. Doch es mag nichts nützen. Wer will das Unaussprechliche und Unerträgliche von ihr, der alten Lizzy, schon erfahren? Wenn ihr zum Reden Verurteilten keiner zuhört, gibt es für sie nur eine „Erlösung“, den dramatischen Sprung ins Schweigen? Doch zurück in den Zirkus — die Metapher für das hier vorgeführte grauenvolle „Spiel des Lebens“ hat Lothar Trolle zielsicher gewählt. Das Setting ruft Künstler wie Max Beckmann ins Gedächtnis, die den brutalen Ursprung dieses Unterhaltungsortes, die blutige römische Arena, nicht vergessen haben. Überhaupt erinnern die von Trolle eindrucksvoll montierten Variété- Szenen stark an Arbeiten dieses Malers. Beckmanns archaisch-modernen Zirkus-Grotesken gemahnen an jene antiken „Mord-Luststätten“ und werden so zu einem bedrückend stummen Kommentar zum nazideutschen Alltagsterror. Die Shakespearesche „Welt als Bühne“ ist grauenvoller Tatort, an dem das „Ungeheuer Volk“ mit brotsattem Bauch durch tödliche „Spiele“ besänftigt wird. Lizzys Rolle in diesem Spiel ist quälend in der Schwebe: Mal diktatorische Dompteuse, mal Opfer, stachelt sie ihr mordgieriges Publikum gegen sich selber auf. Denn „Herzblut will das Publikum heutzutage tropfen sehen“. Die Unfaßbarkeit der nationalsozialistischen Todesbürokratie ist kaum treffender zu beschreiben als in jener zynischen Metapher vom pervertierten und makabren „Spiel“.

Die gelungene Gemeinschaftsproduktion des DS-Kultur und des SFB zeigt, daß sich das Grauenhafte vielleicht gerade so wie hier immer wieder sagen läßt. Gaby Hartel